Das Jahr elf danach

Er schwankt vorwärts, kippelt nach rechts und stößt gegen die Wand. Orazio Giamblanco presst mit aller Kraft die Griffe seiner Krücken und setzt das linke Bein, das in einer Plastikschiene steckt, einen halben Schritt vor. Er hält inne. Sein Blick ist starr auf seine orthopädischen Stiefel gerichtet. Er zieht das rechte Bein nach. Etwa drei Meter hat der kleine, untersetzte Mann hinter sich. Drei Meter von seinem Rollstuhl im breiten Flur zum Raum mit den vielen Fitnessgeräten. Wäre niemand in der Nähe, der sofort zupacken könnte, dürfte Giamblanco selbst diesen kurzen Gang nicht wagen. Doch er kann sich auf die junge Frau neben sich verlassen. Sie beobachtet jeden Schritt.

»Geht es, Orazio?« »Geht schon, Efi.« Sie ist die Tochter seiner Lebensgefährtin. Nach zehn Minuten hat Giamblanco es geschafft. Langsam dreht er den Rücken zu einem stählernen Gestell, oben stehen zwei lange Hebel ab. An der linken Seite des Geräts hängen Gewichte an einem Drahtseil. Giamblanco streckt sich und zieht die Hebel herunter. 25 Kilo gehen hoch. Langsam, aber immerhin zehnmal.

Im Bielefelder »Zentrum für Physiotherapie« trainieren Kranke und Gesunde nebeneinander. Die Fußballprofis von Arminia Bielefeld schwitzen hier an Kraftmaschinen und auf Laufbändern. Eine kleine Frau humpelt auf Krücken zu einem Gerät. »Zu uns kommen Leute, die hatten irgendeinen Unfall oder einen Schlaganfall«, sagt Tim Steffans. Seinem Vater gehört das Zentrum, der Sohn arbeitet hier als Physiotherapeut, ein freundlicher, offener Typ. »So eine Geschichte wie die von Giamblanco «, sagt Steffans, »hatten wir hier noch nie.« Es scheint, als hadere Steffans mit dem Schicksal des Patienten. »Er ist ja in keiner Weise schuld. Wenn Leute einen Schlaganfall kriegen, haben sie sich oft jahrelang falsch ernährt.« Steffans Stimme stockt. »Was Giamblanco passiert ist, geht einem noch näher als ein typischer Patient mit Schlaganfall.«

Was Giamblanco passiert ist. Am Abend des 30. September 1996 traf es Giamblanco blitzartig so hart wie andere nur ein Schlaganfall. Der Skinhead Jan W. und ein Kumpan fuhren mit dem Auto durch das brandenburgische Trebbin. Sie suchten nach den Italienern, die dort auf Baustellen arbeiteten, um sie zu verprügeln. Giamblanco, damals 55, war erst vor wenigen Tagen aus Bielefeld gekommen. Er und zwei Kollegen liefen den Rechtsextremisten in die Arme. Jan W. schlug ihm sofort seine Baseballkeule gegen den Kopf. In zwei Notoperationen kämpften die Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde um Giamblancos Leben. Er wurde gerettet, aber sein Leben war ruiniert. Er leidet unter spastischer Lähmung, Hirnschädigung, Depressionen, er kann nicht mehr richtig sprechen. Eine Aussicht auf Genesung gibt es nicht.

Seit dem Frühjahr 1997 berichtet der Tagesspiegel über Giamblanco, dessen Lebensgefährtin Angelica Berdes und ihre Tochter Efthimia, die bei der Pflege hilft und an ihrem freien Tag zur Physiotherapie mitkommt. Die Geschichte des Orazio Giamblanco und der beiden Frauen hat viele Leserinnen und Leser bewegt, jedes Jahr kommen enorme Spendengelder zusammen. Dabei ist es »nur« eine Geschichte unter tausenden, die seit der Wiedervereinigung zu erzählen wären. Giamblancos Schicksal ist eine Zeile in einem dunklen Kapitel der Bundesrepublik, und nicht die letzte.

In den vergangenen 17 Jahren sind wahrscheinlich tausende Menschen von Rechtsextremisten misshandelt worden. Allein in diesem Jahr hat die Polizei nach vorläufigen Erkenntnissen deutschlandweit über 550 rechte Gewalttaten gezählt. Bis Ende Oktober haben Neonazis und andere Rassisten mindestens 500 Menschen verletzt – deutlich mehr als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Öffentlich bekannt werden nur Einzelfälle, aber auch diese wenigen Opfer geraten in der Regel spätestens nach dem Prozess gegen den oder die Täter in Vergessenheit. Wie es den Überfallenen, den Geschlagenen, den Traumatisierten ergeht, und ihren Angehörigen, lässt Giamblancos Beispiel erahnen.

Tim Steffans, der Therapeut, hockt sich vor ein Trainingsgerät, das die Beinmuskulatur stärken soll. Steffans hilft Giamblanco, sich hinzulegen und den Kopf zwischen zwei stabilisierende Lederpolster zu legen. Giamblanco stemmt die Füße gegen eine Stahlplatte, mit der sich die eingestellten 40 Kilo Gewicht heben lassen. Steffans drückt in Giamblancos linke Hüfte und unterstützt so die Streckbewegungen. Nach zehn Minuten hilft der Physiotherapeut beim Aufstehen, Giamblanco wirkt erleichtert. »Man muss was machen, um ihm die Kraft zu erhalten«, sagt Steffans, »damit er zu Hause an Krücken laufen kann.« Mehr sei nicht zu erreichen. Als der Physiotherapeut weg ist, nuschelt Giamblanco, »hab’ letztes Jahr mehr Sicherheit gehabt beim Laufen. Jetzt mehr Angst.« Es kam in diesem Jahr einiges zusammen, das ihm das Leben weiter erschwert hat: neue Gesundheitsprobleme und Ärger mit den Krankenkassen.

In einem zweiwöchigen Sommerurlaub in Griechenland, möglich dank der Spenden, litt Giamblanco tagelang unter starkem Nasenbluten. Vielleicht habe die extreme Sommerhitze den Blutdruck so steigen lassen, dass in der Nase Adern platzten, sagte der Arzt. Giamblanco war deprimiert: Gerade er, der Sizilianer, hat doch immer die Sonnenwärme geliebt. Wehmütig erinnert er sich an jene Reise im Juni 2003, als er mit der Unterstützung eines Tagesspiegel-Lesers seine Heimatinsel besuchen und die mediterrane Luft genießen konnte. Doch nach den zwei Wochen in Griechenland hat Giamblanco resigniert. »Urlaub im Sommer geht nicht mehr«, sagt er.

Orazio traue sich inzwischen auch nicht mehr, in der Wohnung an nur einer Krücke zu gehen, sagt seine Lebensgefährtin Angelica Berdes, eine Griechin. Die zierliche Frau, 56 Jahre alt, ist selbst angeschlagen. Seit mehreren Jahren geht sie zu einem Psychiater und nimmt Beruhigungsmittel. Im Mai musste sie sich wegen eines Leistenbruchs operieren lassen. Dem kompakten Orazio aufzuhelfen oder ihn aufzuheben, wenn er stürzt, geht über ihre Kräfte.

Gleich nach dem Angriff auf Giamblanco hatte sie ihre Arbeit aufgegeben. Ihr Leben besteht seitdem nahezu rund um die Uhr aus Pflege und Hilfe für Orazio. Nach dem Sommer »konnte er wegen Depressionen nachts nicht mehr schlafen«, sagt Berdes. Fünf-, sechsmal habe sie ihm aus dem Bett helfen müssen. »Meine Mutter war total übernächtigt«, klagt Efthimia, »sie sah fast aus wie ein Monster.« Als es nicht mehr ging, bat Angelica Berdes ihre arbeitslose Schwiegertochter Patrizia um Hilfe. Die junge Frau kommt jetzt abends in die Wohnung, legt sich auf der Couch hin und ist sofort da, wenn Giamblanco wach wird. Frühmorgens ist Angelica Berdes wieder zur Stelle. Nach wenigstens ein paar Stunden Schlaf.

In ihrer Freizeit ist Efthimia fast ständig bei ihrer Mutter und Orazio. Die 33-Jährige wohnt im selben Haus, gleich gegenüber, in einer eigentlich viel zu teuren Wohnung. Es ist nicht der einzige Preis, den die junge Frau für ihre Hilfe zahlt. Kurz nach dem Überfall auf Giamblanco musste sie ihre Lehre als Friseurin abbrechen, weil der Chef kein Verständnis für Fehlstunden hatte – die bei der Pflege eines Schwerbehinderten beinahe zwangsläufig sind. Seit 2000 arbeitet Efthimia Berdes wieder, als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik, in drei Schichten und für wenig Geld. Ihre Beziehungen mit Männern halten nicht lange. »Keiner will akzeptieren, dass ich mich mit um Orazio kümmere«, sagt Efthimia Berdes. Den Traum von einer eigenen Familie aber will sie nicht aufgeben, »mit zwei, drei Kindern«. Doch sie ahnt, dass die Hilfe für Orazio eher noch schwieriger wird. Weil er mit seinen 66 Jahren und trotz der urwüchsigen Kraft, die der Sohn einer sizilianischen Bauernfamilie hat, körperlich und mental abbaut. Zumal in diesem Jahr nicht nur der verdorbene Sommerurlaub dem schwerbehinderten Mann und den zwei Frauen zu schaffen machte.

Im September rief Efthimia Berdes beim Tagesspiegel an. Seitdem Orazio in der Knappschaft krankenversichert sei, »sollen wir vieles selber bezahlen, sogar für die Krankengymnastik«. Das könne doch nicht sein, früher hätten sie alle Leistungen ohne Zuzahlung erhalten, da Orazio ja schwer behindert sei. »Jetzt schläft er wieder schlecht und weint«, sagte Efthimia Berdes, »und wir blicken bei der Krankenversicherung nicht durch.«

Der Fall war tatsächlich kompliziert. Allerdings zeigte sich bei Recherchen, dass Giamblanco und die beiden Frauen unnötig zahlten. Die AOK Westfalen-Lippe hatte Giamblanco nach seinem 65. Geburtstag zur Rentenversicherung der Knappschaft Hamm überwiesen. Giamblanco war in seinem Berufsleben kurzzeitig bei der Knappschaft krankenversichert gewesen, deshalb hatte diese die Auszahlung der Altersrente zu übernehmen. Giamblanco hätte allerdings bei der AOK krankenversichert bleiben können, wenn er das beantragt hätte. Offenbar hatten er und die Frauen ein Informationsschreiben, das die AOK geschickt hatte, nicht verstanden. Jedenfalls reichte die AOK Giamblanco dann auch an die Krankenversicherung der Knappschaft weiter. Ohne den Hinweis, dass Giamblanco schwer behindert ist.

»Es muss von uns aus nicht proaktiv mitgeteilt werden, dass jemand schwer geschädigt ist«, sagt ein Sprecher der AOK Westfalen-Lippe. Nur wenn die Knappschaft »gezielt nach Vorerkrankungen fragt«, könne der Hinweis erfolgen. Doch die Knappschaft fragte nicht, weil sie keine Anhaltspunkte für eine Behinderung Giamblancos hatte. Er selbst und die Frauen gingen aber davon aus, dass die Knappschaft von den Gebrechen und der dann automatischen Befreiung von jeder Zuzahlung für Gymnastik, Arztbesuche und Medikamente wusste. Beide Krankenversicherungen hatten formal korrekt gehandelt. Giamblanco war der Dumme.
Ein bürokratisches Missverständnis. Doch dann half das Versorgungsamt Cottbus. Das Amt ist für Giamblancos Opferentschädigungsrente zuständig, da er in Brandenburg überfallen worden war. Die Knappschaft wurde über seine Ansprüche informiert, sie teilte Giamblanco einen »Befreiungsausweis für Versorgungsberechtigte« zu. Aufatmen in Bielefeld.

Erleichtert ist auch ein 33-jähriger Mann in Trebbin: Jan W., der Täter von damals. Jedes Problem, das sein Opfer weniger hat, hat auch er weniger. Vor einem Jahr hatte er dem Tagesspiegel zwei Briefe an Giamblanco und seine beiden Frauen mitgegeben. Er versuchte, seine Tat und seine rechtsextreme Verblendung zu erklären. Jan W. war 1997 für den Angriff zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Er hat sich längst von der braunen Szene gelöst, 2004 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Giamblanco, Angelica und Efthimia Berdes waren gerührt, sie verziehen Jan W. »Da ist mir ist ein riesengroßer Stein vom Herzen gefallen«, sagt der. »Aber man denkt jeden Tag, wie hätte man die Situation damals vermeiden können.« W. schweigt ein paar Sekunden. »Ganz besonders, wenn ich durch Trebbin fahre, da an der Stelle vorbei, dann denke ich: Mensch, du Idiot, hättest du nicht im Auto sitzen bleiben können?«

Jan W. versuchte nach der Haft vergeblich, einen festen Job zu bekommen. Er hat sich dann selbstständig gemacht und arbeitet inzwischen als Ein-Mann-Unternehmen auf kleinen Baustellen. Er sagt, ein Rückfall in die »dämlichen Gedanken« von früher komme nicht in Frage. Es drängt ihn, sich noch einmal an Giamblanco und die beiden Frauen zu wenden. »Ich wünsche ihm gute Besserung«, sagt Jan W.

»Wir haben keinen Hass«, sagt Giamblanco. Aber allzu viel möchte er über die Tat und den Täter nicht reden. Er denkt nach. »Ich will noch ein bisschen was schaffen«, sagt er. Stille. »Vielleicht«, seine Stimme ist kaum zu hören, »komme ich noch mal nach Sizilien, wenn es nicht so heiß ist«.

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