Ein afghanischer Flüchtling in einer Brandenburger Kleinstadt

Jahir Shah, ein 28-jähriger Flüchtling aus Afghanistan, wohnt schon seit über zwei Jahren im Übergangswohnheim für Asylbewerber in U. Das Heim liegt etwas außerhalb der Stadt. Werktags fährt viermal am Tag ein Bus am Heim vorbei zum Bahnhof, der letzte gegen 21 Uhr.

1. Die Tat

Es ist schon dunkel an diesem Abend, als Jahir aus der Kreisstadt kommt und auf dem Bahnhofsvorplatz auf den Bus wartet. Ein paar Meter entfernt steht eine Gruppe junger Männer am Imbiss und trinkt Bier. Die kurzhaarigen, 16- bis 20-Jährigen tragen, wie viele Jugendliche, Bomberjacken, Armee-Tarnhosen, manche auch Jeans, Turnschuhe oder schwere Stiefel. Zwei von ihnen kommen auf Jahir zu und fragen ihn etwas. Jahir versteht sie nicht genau und sagt, dass er kein Deutsch spricht. »Was willst du hier in Deutschland, Scheiß-Ausländer?« sagt der eine, bevor ihm der andere ins Gesicht schlägt. Die anderen der Gruppe sind näher gekommen und bilden nun einen Kreis um Jahir. Einer schlägt ihn von hinten mit etwas nieder. Benommen geht Jahir zu Boden. Noch einige Male treten sie mit ihren Stiefeln auf ihn ein, in den Rücken und immer wieder auf den Kopf. Als ein Auto vorbeifährt lassen sie von ihm ab und rennen weg.

Jahir kommt auf die Beine, schleppt sich blutüberströmt zum Imbiss. Der Imbissverkäufer dreht ihm den Rücken zu. Jahir stammelt: »Telefon, Polizei«. Der Verkäufer dreht sich langsam um, sieht ihn entsetzt an und weist ohne ein Wort mit ausgestrecktem Finger auf eine Telefonzelle, die Jahir bisher nicht aufgefallen war. Jahir schleppt sich zum Telefon und ruft die Polizei. Für Jahir dauert es lange, bis jemand kommt. Menschen, die vorbei gehen, halten ihn wahrscheinlich für betrunken, wie er so am Boden kauert.

Der Streifenwagen fährt ihn ins Krankenhaus und nimmt noch in der Notaufnahme die Anzeige auf. Die Notaufnahme diagnostiziert eine schwere Gehirnerschütterung, Prellungen im Gesicht und am Körper, Platzwunden und ein gebrochenes Jochbein. Er hat Glück gehabt, das Auge scheint unverletzt zu sein. Jahir wird stationär aufgenommen.

2. Kontaktaufnahme

Am nächsten Nachmittag steht die Polizeimeldung über den Angriff auf Jahir S. in den Pressemeldungen im Internet. Nach einigen Telefonaten haben wir seinen Namen und das Krankenhaus, in dem er liegt, recherchiert. Wir rufen dort an und fragen die Schwester, wie es ihm geht, ob wir ihn besuchen können. Wir fragen auch, ob die Verständigung schwierig ist und wir eventuell einen Dolmetscher mitnehmen sollen. Wir kündigen uns für den nächsten Tag gegen 11 Uhr an.

Wir telefonieren außerdem mit der Heimleitung von Jahirs Wohnheim. Die Schwester hatte uns gesagt, dass die Verständigung sehr schwierig ist, dass aber ein anderer Afghane aus dem Heim Jahir besuchen gekommen ist, der besser Deutsch spricht. Der Heimleiter sagt uns nun, dass es sich dabei um einen Cousin handelt, der eine deutsche Freundin in der Kreisstadt habe, bei der er sich normalerweise aufhalte. Er wolle uns ihre Telefonnummer nicht geben, ihn aber selbst dort anrufen und bitten, uns zurück zu rufen. Zwei Stunden später ruft uns der Heimleiter zurück und reicht den Hörer an Jahirs Cousin Babar Shah weiter, der gerade ins Heim zurückgekommen war. Wir erklären Babar Shah, wer wir sind und dass wir seinen Cousin gerne unterstützen würden. Babar freut sich sehr über das Angebot und wird Jahir noch heute nachmittag von uns erzählen. Wir verabreden, dass wir Babar morgen vom Heim abholen und gemeinsam ins Krankenhaus fahren.

Darüber hinaus verabreden wir mit der zuständigen Ausländerbeauftragten des Kreises, wegen der Sache in Verbindung zu bleiben. Sie freut sich über unsere Unterstützung und gibt uns noch den Tipp, mit der Ausländerberatungsstelle in der Kreisstadt zu telefonieren. Als wir dort anrufen, wird uns ausgerichtet, dass die zuständige Dame gerade außer Hauses sei, uns aber gerne zurückruft. Da sie allerdings erst am Morgen des nächsten Tages wieder ins Büro kommt, erreicht sie uns auf dem Weg ins Wohnheim. Sie hat bisher nur von der Sache in der Zeitung gelesen und sich nicht selbst darum kümmern können. Es hätten sich aber schon öfter Flüchtlinge aus dem Heim in Ü. an sie gewandt, weil sie am Bahnhof belästigt worden seien. Auch hier vereinbaren wir, in Verbindung zu bleiben.

3. Erstes Gespräch

Am dritten Tag nach dem Angriff sind wir im Krankenhaus zum ersten Gespräch mit Jahir. Babar übersetzt. Jahir spricht schnell und aufgeregt. Nachdem wir uns kurz vorgestellt haben, kommt er sofort zur Sache und erzählt, was an dem Abend geschah. Die Polizei sei am nächsten Tag noch einmal mit Dolmetscher wieder gekommen und habe ihn eingehend befragt. Sie hätten ihm auch auf seine Nachfrage hin erzählt, dass sie noch am gleichen Abend zwei Jugendliche festgenommen hätten. Jahir wundert sich, warum es nur zwei sein, da die Angreifer doch mindestens zu zehnt waren. Der Dolmetscher hätte ihn auch immer wieder gefragt, ob er ein Messer dabei gehabt hätte. Jahir hatte das Gefühl, dass ihm die Polizei nicht glaubt. »Sie denken, ich habe provoziert, aber so war es doch nicht!« Er vermutet, dass der Dolmetscher alles falsch übersetzt hat.

Wir fragen ihn, ob er noch Schmerzen hat. Er klagt über Kopfschmerzen, und dass er nicht gut schläft. Nachts wache er oft schweißgebadet auf und könne nicht mehr einschlafen. Ihm gehe das Geschehen wieder und wieder durch den Kopf. Er frage sich immer wieder, warum sie gerade ihn geschlagen haben. Er habe ihnen doch gar nichts getan.

Wir fragen ihn, ob er früher schon einmal solche Jugendlichen am Bahnhof gesehen habe, wie er sich allgemein hier in der Stadt und im Heim fühle. Er erzählt daraufhin, dass ihm bis zu diesem Abend nichts passiert sei, dass aber alle Heimbewohner den Bahnhof meiden, wenn sie können, da verschiedene Bewohner, besonders Schwarzafrikaner, dort schon angepöbelt und auch geschlagen wurden. Allerdings wäre bisher niemand so schwer verletzt worden, dass er im Krankenhaus hatte bleiben müssen. Es wäre schwer, in der Stadt zu leben. Alle Heimbewohner hätten große Angst, sich nach Einbruch der Dunkelheit allein zu bewegen. Sie würden, soweit möglich, nur noch in Gruppen ausgehen. Der Cousin wirft ein, dass die Situation im Heim allgemein schlecht sei. Die Heimleitung wäre zwar sehr freundlich, aber das Heim wäre in einem schlechten Zustand und zu weit weg von der Stadt. Für die Flüchtlinge, die dort mit Familie wohnten, sei es weniger schlimm. Die hätten ja wenigstens ihre Kinder. Sie aber seien ganz allein. Da will man doch auch mal mit Freunden weggehen. Hier in U. könne man das nicht. Es wäre zu gefährlich und auch zu teuer. Und der letzte Bus fahre um 21 Uhr. Er würde die meiste Zeit bei seiner Freundin in der Kreisstadt verbringen. Sie würden planen zu heiraten. Er hätte aber Probleme mit den entsprechenden Papieren. Er zeigt uns seine Unterlagen. Auch er sei schon einmal angegriffen worden von diesen »Nazis«, sagt er. Das sei vor zwei Jahren passiert, als er gerade neu in Ü. angekommen war. Zwei »Nazis« hätten ihn auf der Straße mit der Faust auf die Nase geschlagen. Die Platzwunde musste genäht werden. Er zeigt uns die Narbe. Er wäre damals auch zur Polizei gegangen, hätte sich aber nicht richtig verständlich machen können. Die hätten ihm gesagt, er möge mit einem Dolmetscher wiederkommen. Aber woher hätte er einen Dolmetscher nehmen sollen. Anzeigen bringen seiner Meinung nach gar nichts. Die Polizei würde sowieso nicht richtig ermitteln, alles würde im Sande verlaufen und man würde nie mehr etwas davon hören.

Zurück zu Jahir: Wir fragen ihn, ob er sich im Krankenhaus gut betreut fühlt und wann er entlassen werden kann. Er antwortet, dass alle sich sehr um ihn bemühen und er allen sehr dankbar ist, auch wenn er sich nicht mit ihnen verständigen kann. Wann er entlassen wird, weiß er noch nicht.

Wir erklären ihm den rechtlichen Ablauf, der normalerweise auf einen solchen Angriff, der angezeigt wird, folgt. Beide hören interessiert zu, glauben aber noch immer nicht, dass die Sache wirklich weiterverfolgt wird. Wir geben Beispiele aus anderen Städten und Einschätzungen zur Situation in Brandenburg; versuchen die Frage: »Warum werde gerade ich angegriffen?« rational anzugehen; erklären ihnen, dass nicht sie als Person angegriffen wurden, sondern als Teil der Gruppe »Ausländer«; bieten Erklärungsmuster zum Rechtsextremismus an. Jahir kann der Diskussion nicht mehr folgen. Babar hört auf zu übersetzen und steigt stattdessen auf die Diskussion ein. Es ist zu früh, solche Themen zu besprechen.

Vorerst erklären wir Jahir, dass es gut wäre, wenn er sich bei Gelegenheit die Ereignisse in einem Gedächnisprotokoll aufschreiben würde. Er erwidert, dass er diesen Abend nie vergessen wird. Wir überzeugen ihn, dennoch ein möglichst detailliertes Protokoll zu schreiben, in seiner eigenen Sprache und nur für sich, da es oft ein halbes bis zu einem dreiviertel Jahr dauert, bis es zu einem Prozess kommt (wenn es denn dazu kommt) und man viele Details bis dahin vergessen haben kann.

Zu seinen Schlafstörungen empfehlen wir ihm, doch auf jeden Fall seinen Arzt darüber zu informieren. Wir beschreiben aber auch, dass dies eine natürliche Reaktion der Psyche ist, einen solchen Angriff auf die körperliche Integrität zu verarbeiten. Wir vereinbaren, dass er sich bei uns melden wird, wenn er aus den Krankenhaus entlassen ist.

Auf dem Weg in die Kreisstadt – wir nehmen Babar mit dem Auto mit – geben wir ihm die Telefonnummer der Ausländerberatung, an die er sich wegen seiner Heiratssache wenden kann. Wir fragen ihn, ob er wegen des Angriffs auf ihn noch etwas unternehmen will. Unserer Meinung nach ist es nicht rechtens, dass die Polizei ihn einfach wieder nach Hause schickt, wenn er gekommen ist, eine Körperverletzung anzuzeigen. Aber er winkt ab, er hätte kein Vertrauen mehr in die Polizei und außerdem sei die Sache zu lange her.

4. Das Umfeld vor Ort

Wir berichten der Ausländerbeauftragten und der Ausländerberatung von dem Gespräch und fragen sie, ob es Gruppen gäbe, die sich sozial um das Wohnheim kümmern würden. Es gibt keine. Auch eine RAA gibt es in der Gegend von Ü. nicht. Wir hatten allerdings vor einiger Zeit Kontakte zu Jugendlichen aus dem Jugendclub C.L.U.B. in der Kreisstadt. Wir rufen also André aus dem Jugendclub an und erzählen ihm von dem Angriff in Ü. Er kennt Jugendliche aus Ü., die bei Konzerten öfter in den C.L.U.B. in die Kreisstadt kommen. André wird ihnen unsere Telefonnummer weitergeben, so dass sie sich bei uns melden können.

Zwei Tage später ruft Rico aus Ü. an. Wir erzählen ihm von dem Angriff auf Jahir und fragen ihn, wie er die Bedrohungssituation in Ü. einschätzt. Für ihn ist der Bahnhof ganz klar ein Gebiet, dass man abends weitestgehend meidet, ebenso wie den Markt und den »Donnerbalken«, ein Jugendclub, in dem sich vorwiegend die örtlichen »Glatzen« treffen würden. Sie selbst würden sich im »Turm« treffen, dort aber auch zunehmend Probleme mit Glatzen bekommen. Besonders Jüngere würden häufiger angegriffen werden. Wir verabreden, beim nächsten Besuch in Ü. bei ihnen vorbeizuschauen.

5. Zweites Gespräch

Zwei Wochen später ruft Jahir an. Er sei jetzt wieder zurück im Heim. Wir verabreden uns zu einem zweiten Gespräch. Dann rufen wir Rico an und verabreden uns mit ihm für den Nachmittag des gleichen Tages. Wir treffen uns mit Rico im »Turm«. Nach der Wegbeschreibung ist das kleine Haus auf der Anhöhe gar nicht so leicht zu finden gewesen. Von außen recht unscheinbar, befinden sich im Inneren doch zwei Clubräume, ein Büro und die üblichen Toiletten. Alles bunt bemalt oder mit Plakaten behängt. Im größeren Raum wartet an der Theke Rico auf uns. Wir suchen uns eine ruhige Ecke und fragen Rico über den »Turm« und »was hier so läuft« und über die Situation in Ü.

Es gäbe in Ü. eine kleinere rechte Szene, die sich am Bahnhof trifft. Gerade an diesem Imbiss würden sie am Wochenende rumhängen. Insgesamt wären das vielleicht so 20 bis 30 Leute, alle sehr jung so 14 bis 18. Nur wenige sind über 20 Jahre alt. Es gäbe ein paar stadtbekannte Schläger, von denen allerdings jetzt einer im Gefängnis sitzt. Ein anderer würde noch immer frei herumlaufen, obwohl er schon so viele Anzeigen zu laufen hat, dass man sich doch fragt, wie das kommt, dass der immer weiter so »rumschlägern« kann. Sie haben durch den »Turmförderverein« recht gute Kontakte in die Stadt, besonders zu einem Abgeordneten. Der Bürgermeister will sich möglichst aus allem raushalten und natürlich nicht, dass die Stadt in Verruf kommt. Mit der Polizei gibt es unterschiedliche Erfahrungen, manche sind so und manche so.

Wir erzählen Rico von Jahir. Rico sagt, dass sie die Sache mit Jahir auch schon in der Zeitung gelesen hätten, selbst zum Wohnheim aber keine Kontakte hätten. Früher wären manchmal ein paar Sudanesen vorbeigekommen, wenn es im Turm eine Party gegeben hätte. Seit die weg sind, kommt keiner aus dem Heim mehr. Wir schlagen ihm vor, zum Treffen mit Jahir mitzukommen. Das Heim ist einsam gelegen auf einem alten Militärflughafengelände. Wir begrüßen die Heimleitung und lassen uns dann zu Jahirs Zimmer bringen. Sie sind zu viert im Zimmer, alles Afghanen. Jahir stellt die anderen vor und bietet uns Tee an. Wir stellen Rico vor und erzählen kurz vom »Turm«. Die Afghanen haben von dem kleinen Club auf dem Hügel gehört, Rico lädt sie ein, doch einmal vorbeizukommen.

Wir sprechen darüber, wie es Jahir jetzt geht. Das meiste ist gut verheilt. Er kann allerdings noch immer nicht schlafen, hat Alpträume und wagt sich nachts nicht mehr aus dem Haus. Auch tagsüber geht er nun fast immer in Begleitung, wenn er kurzhaarige Jugendliche sieht, bricht ihm der Schweiß aus. Er bittet uns, ihm dabei zu helfen, in ein anderes Heim verlegt zu werden. Er möchte, wenn möglich, nach Berlin. Dort könne er freier atmen und sich ohne Angst bewegen. Wir erklären ihm die Prozedur, sagen ihm aber auch, dass er sich keine Hoffnungen machen soll, nach Berlin verteilt zu werden. Eine Umverteilung in ein anderes Bundesland ist die große Ausnahme. Viele Flüchtlinge wollen nach Berlin, daher wird dem nur in absoluten Ausnahmen zugestimmt. Wir formulieren mit ihm einen Antrag auf Umverteilung in ein anderes Heim, da er sich in Ü. aufgrund des Angriffs nicht mehr sicher fühlt. Rico bietet ihm an, ihn mit dem Auto zur Ausländerbehörde in die Kreisstadt zu fahren, um den Brief dort abzugeben.

Wir fragen Jahir, ob sich die Polizei noch einmal bei ihm gemeldet hat. Er sagt, dass, kurz nachdem wir gegangen waren, die Polizei gekommen wäre und ihm Fotos vorgelegt hätte, auf denen er aber niemanden erkannt hätte. Wieder reden wir über sein Vertrauen zur Polizei. Wir erklären ihm, dass es für ihn auch die Möglichkeit gibt, einen Rechtsanwalt mit der Nebenklage zu betrauen. Da ihn die Polizei nach Festnahme zweier Tatverdächtiger nach einem Messer gefragt hat, liegt es nahe, dass die Skinheads sich verteidigt haben, indem sie ihrerseits Jahir beschuldigt haben. Daraufhin beteuert Jahir wieder, dass er doch gar nichts gemacht hätte, sondern nur friedlich auf seinen Bus gewartet hätte. Wir machen ihm deutlich, dass die Polizei derzeit die Sachen ermittelt, wenn es allerdings keine Zeugen gibt, ist so etwas immer schwer. Jahir fragt, ob denn der Imbissbesitzer nichts gesehen habe, ob er vielleicht selbst ein Rechter sei. Rico denkt, dass er einfach nur hilflos gegenüber den Skinheads ist und seine Ruhe haben will. Jahir findet das deutsche Rechtssystem viel zu lasch. Wenn solche Täter überhaupt ins Gefängnis kommen, wären sie nach kurzer Zeit wieder draußen. Und auch in den Gefängnissen, das wäre doch Erholung, nicht Strafe für sie. Da würden sie doch nichts bereuen. Sie sollten die Strafe richtig fühlen, so dass sie so etwas nie wieder tun.

Jahir fragt noch einmal nach, wie das denn wäre mit einem Rechtsanwalt, wovon er den denn bezahlen solle. Wir erklären ihm, dass er aufgrund seines geringen Einkommens wahrscheinlich Prozesskostenhilfe erhalten wird, man dies aber noch einmal genauer beim Rechtsanwalt nachfragen müsse. Daneben gäbe es noch die Möglichkeit einen Antrag beim Weißen Ring zu stellen. Rico empfiehlt ihm einen Rechtsanwalt in Berlin, von dem er gehört hatte, dass er ganz gut sei. Wir vereinbaren mit Jahir, dass wir für ihn mit dem Rechtsanwalt einen Termin vereinbaren und ihm dann Bescheid geben. Jahir bedankt sich für die Unterstützung und meint, dass es doch ein größeres Vertrauen in die Sache hat, wenn er einen Anwalt an seiner Seite weiß. Wir fragen ihn noch nach seinem Asylverfahren und wie es sich für ihn in dem Heim lebt und verabschieden uns dann von seinen Mitbewohnern, die sich an dem Gespräch kaum beteiligt haben.

Momin, der einzige seiner Mitbewohner, der gut Deutsch spricht und in diesem Gespräch für uns dolmetschte, bringt uns zusammen mit Jahir zum Auto. Auf dem Weg sprechen wir über die Ursachen des Rechtsextremismus. Momin denkt, dass das Problem nicht von den Jugendlichen ausgeht, die wären ja alle noch Kinder. Es würde vielmehr daran liegen, dass sich deren Eltern nicht für sie interessieren. Sie sagen, dass ihnen die Ausländer die Arbeit wegnehmen und sie deshalb arbeitslos sind. Er als Flüchtling dürfe ja gar nicht arbeiten. Wenn er aber arbeiten dürfe, würde er sicher eine Arbeit finden. Seiner Meinung nach würden die Jugendlichen nur jammern und nichts selbst anpacken. Er kenne eine bosnische Familie, die wären 1991 nur mit einem Koffer nach Brandenburg gekommen und jetzt hätten sie eine hübsche Wohnung, ein Auto. Der Mann sage ihm immer wieder, er hätte damals jede Arbeit angenommen, die er bekommen konnte, auch wenn die Bezahlung schlecht war. Die deutschen Jugendlichen wollen ja immer nur viel Geld haben, aber nicht dafür arbeiten. Rico verabredet mit Momin, mal wieder auf einen Tee vorbeizukommen. Er gibt ihm seine Telefonnummer. Wir verabschieden uns und fahren Rico noch in die Stadt.

6. Telefonate

Am nächsten Tag erreichen wir Rechtsanwalt I. und schildern ihm den Fall von Jahir. Wir vereinbaren einen Termin in zwei Wochen für ein erstes Gespräch. Nun versuchen wir einen Übersetzer für diesen Termin zu finden. Da der Termin schon um 15 Uhr ist, wird es sehr schwer sein. Die meisten müssen um diese Zeit noch arbeiten. Nach verschiedenen Telefonaten mit Flüchtlingsberatungsstellen und anderen Organisationen erhalten wir die Telefonnummer von Johara F., einer afghanischen Frau, die schon viele Jahre in Berlin lebt und dort eine Anstellung an der Universität hat.

Johara ist in Urlaub und kommt erst in drei Tagen wieder. Wir sind optimistisch, dass der Termin klappen wird und rufen im Heim an, um Jahir dies mitzuteilen. Mit vielen Verständigungsschwierigkeiten erklären wir ihm, dass er, wenn er in Berlin über Nacht bleiben will, von der Ausländerbehörde einen Urlaubsschein braucht. Er weiß dies schon und hat sich überlegt, bei dieser Gelegenheit Freunde in Berlin besuchen zu gehen. Mit dem Rechtsanwalt hatten wir ausgemacht, die Terminbestätigung ins Heim zu faxen, so dass Jahir das Fax mit zur Ausländerbehörde nehmen kann. Auch Rico rufen wir an und sagen ihm den neusten Stand. Er bietet an, Jahir an diesem Nachmittag mit dem Auto nach Berlin zu fahren. Er würde dann davor mit ihm zur Ausländerbehörde und den Urlaubsschein abholen. Zurück müsse er dann allerdings allein fahren, da er, Rico, wieder nach Ü. müsse. Wir besprechen, dass er dies mit Jahir verabredet und mit ihm auch zum Sozialamt geht und die Erstattung der Fahrtkosten beantragt.

Wegen des Umverteilungsantrages rufen wir die Ausländerbeauftragte an und schildern ihr die Situation. Sie schätzt eine Umverteilung außerhalb des Landekreises als schwierig ein, innerhalb des Landkreises ist das Heim in Ü. allerdings das einzige Heim. Sie wird sich aber für eine Verteilung in ein anderes Heim einsetzten und dazu bei der Ausländerbehörde vorsprechen.

Ein paar Tage später erreichen wir Johara. Wir stellen uns vor und berichten von der Sache mit Jahir. Sie ist damit einverstanden, für ihn bei dem Rechtsanwaltstermin zu übersetzen und wird direkt zum Anwalt kommen.

7. Der Rechtsanwaltstermin

Wir treffen uns mit Jahir und Rico beim Rechtsanwalt. In der Ausländerbehörde hat es keine Probleme gegeben. Jedoch weigert sich das Sozialamt, die Fahrtkosten zu übernehmen. Wir bieten an, dies mit dem Sozialamt zu klären. Noch während wir warten, kommt Johara. Rico fragt Jahir, ob es ihm recht ist, dass er auch dabei ist. Jahir bejaht. Das Gespräch ist trotz Übersetzung relativ kurz. Jahir schildert, was passiert ist. Der Rechtsanwalt fragt ein paar mal nach und erklärt dann den weiteren Verlauf. Er brauche ein paar Vollmachten von Jahir und werde sich dann bei der Staatsanwaltschaft als Nebenklagevertreter vorstellen. Gleichzeitig werde er Akteneinsicht beantragen. Wenn er die habe, würde er sich noch mal mit uns oder mit Jahir in Verbindung setzen und einen neuen Termin vereinbaren.

Nach dem Termin gehen wir alle zusammen in ein Café. Wir berichten Jahir von unserem Gespräch mit der Ausländerbeauftragten. Und sprechen wieder über seine Angst auf der Straße. Wir bieten ihm an, uns um eine psychologische Betreuung für ihn zu kümmern. Da er allerdings kein Deutsch spricht, wird es sehr schwierig sein, einen Therapieplatz zu finden. Er möchte gern, dass wir uns darum kümmern.

8. Ein Therapieplatz

Es gibt nur wenige Einrichtungen und diese auch nur in Berlin, die auf posttraumatische Belastungsstörungen spezialisiert sind. Die beiden Einrichtungen, die Flüchtlinge psychologisch betreuen und auch eine entsprechende Übersetzung sicherstellen können, haben lange Wartezeiten. Schließlich hilft uns Johara. Sie kennt eine deutsche Therapeutin, die mit einem Afghanen verheiratet ist. Sie hat dort lange Zeit gelebt und spricht die Sprache sehr gut. Wir rufen sie an und erklären ihr den Fall. Sie stimmt zu.

Bevor wir aber ein Termin machen können, müssen wir erst die Finanzierung der Therapie klären. Wir sprechen daher mit der Leiterin des Sozialamtes. Bei dieser Gelegenheit sprechen wir auch die Erstattung der Fahrtkosten zum Rechtsanwaltstermin an. Sie kenne den Fall nicht, würde sich aber die Akte geben lassen und uns zurückrufen. Wegen der Therapiefinanzierung hält sie es für notwendig, Jahir von einem Amtsarzt untersuchen zu lassen. Wir schlagen ihr vor, mit Jahir zuerst zu einem Spezialisten in Berlin zu gehen, so dass der Amtsarzt sein Gutachten auf Grundlage dieser fachärztlichen Untersuchung machen kann. Sie erwidert, dass wir dies in Jahirs Namen beantragen könnten. Wir telefonieren also mit Rico und bitten ihn, zu Jahir zu fahren und ihm zu erklären, was wir bisher erreicht haben. Dann schreiben wir diesen Antrag.

Eine Woche später hat das Sozialamt den Antrag befürwortet, und wir versuchen, einen Termin bei einem Facharzt, Dr. P., zu bekommen und dafür wieder einen Dolmetscher zu organisieren. Johara ist zu einer Tagung gefahren, wir erreichen aber ihren Mann, der sich als Dolmetscher zur Verfügung stellt. Weitere zwei Wochen später hat Jahir den Termin bei Dr. P.

In der Zwischenzeit hat auch die Sozialamtsleiterin angerufen und bestätigt, dass er das Fahrgeld für die Fahrt zum Anwalt erhält, auch die Kosten für die Fahrt zum Termin bei Dr. P. übernehmen sie. Da Jahir nicht über Nacht bleibt, braucht er für den Arzttermin keinen Urlaubsschein. Er fährt diesmal allein mit der Bahn und lässt sich auf dem Rückweg vom Heimleiter vom Bahnhof abholen.

Dr. P. bestätigt, dass Jahir eine posttraumatische Belastungsstörung hat und es notwendig ist, dass er sich in Therapie begibt, da diese Störungen sich sonst chronifizieren könnten. Er unterstützt auch Jahirs Antrag auf Umverteilung in ein anderes Heim, da seine Lebenssituation in Ü. immer aufs Neue schmerzhafte Erinnerungen auslöst, die einem Heilungsprozeß im Wege seien. Einen entsprechenden Bericht schickt er an die Ausländerbehörde mit Kopie an das Sozialamt. Das Sozialamt gibt daraufhin dem Amtsarzt den Auftrag, ein Gutachten über Jahir anzufertigen. Wir telefonieren mit dem Amtsarzt, ob es notwendig sein wird, Jahir selbst zu untersuchen, oder ob der Bericht von Dr. P ausreicht und er sein Gutachten auf Aktenlage erstellen kann. Eine Woche später schickt der Amtsarzt eine Psychologin im Heim vorbei, die den Bericht von Dr. P. bestätigt.

Die Sozialamtsleiterin stimmt der Therapie zu und wir rufen erneut die Psychologin Christine Q. an, diesmal um mit ihr einen ersten Therapietermin für Jahir zu vereinbaren. Wir rufen Rico an, um Jahir den Termin auszurichten.

9. Akteneinsicht

Rico meldet sich ein paar Wochen später bei uns, um zu sagen, dass der Rechtsanwalt nun Akteneinsicht hätte und mit Jahir einen Termin vereinbaren möchte. Jahir läßt uns über Rico bitten, noch einmal einen Übersetzer zu organisieren und einen Termin auszumachen.

Nachdem er damals erneut mit Jahir beim Sozialamt war, um die nun genehmigte Fahrtkostenerstattung abzuholen, kommen Rico und ein paar seiner Freunde häufiger ins Heim, um die Flüchtlinge zu besuchen. Die Afghanen kommen auch gelegentlich im »Turm« vorbei, werden auf Feste eingeladen. Ein gemeinsames Sommerfest wird geplant.

Der Termin ist zwei Wochen später. Wieder übersetzt Johara. Rico konnte diesmal nicht mitkommen, aber Jahir findet auch alleine zur Anwaltspraxis und läßt sich auf dem Rückweg in Ü. vom Bahnhof abholen. Der Rechtsanwalt erklärt Jahir, dass die Staatsanwaltschaft zwei Tatverdächtige festgenommen hat, die angaben, sie wären von Jahir grundlos mit dem Messer angegriffen worden und hätten sich darauf hin gewehrt. Die Polizei hätte auch den Imbissbesitzer befragt, der aber nichts gesehen haben will. Es gäbe aber einen anderen Zeugen, der auch die Beschimpfungen gehört habe. Er erklärt Jahir, dass es sicherlich bald zur Anklageerhebung und zum Prozess kommen würde. Der Prozess würde dann vor dem Amtsgericht in Ü. stattfinden. Er wäre als Nebenklagevertreter zugelassen und Jahir solle sich wegen der Schutzbehauptungen der Tatverdächtigten nicht aufregen. Es wäre sehr fraglich, ob sie das vor Gericht glaubhaft machen könnten. Er regt an, dass Jahir einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz stellt. Da keine Schädigung von 25% der Erwerbsfähigkeit vorliegt, kommen eventuelle Zahlungen zwar vor allem der Krankenkasse bzw. dem Sozialamt zugute. Trotzdem helfen wir ihm natürlich bei dem Ausfüllen des Antrags.

Nach dem Termin erklärt Jahir beim Café, dass die Therapie ihm schon etwas geholfen hat, die Umverteilung in ein anderes Heim aber abgelehnt worden sei. Wir versprechen, uns noch einmal darum zu kümmern.

10. Die Umverteilung

Wir telefonieren erneut mit der Ausländerbeauftragten des Kreises. Sie fragt noch einmal bei der Ausländerbehörde nach. Eine Umverteilung in einen anderen Landkreis scheint ausgeschlossen. Jahir solle aber einen erneuten Antrag stellen, diesmal in den Nachbarlandkreis Z. Diesmal hilft Rico Jahir bei dem Antrag.

Plötzlich scheint sich doch etwas zu bewegen. Jahir erhält einen Brief, in dem ihm die Umverteilung in ein Heim in Z. in Aussicht gestellt wird. Zwei Wochen später wird dies in einem zweiten Brief zurückgenommen. Die Ausländerbehörde von Z. hätte die Zustimmung verweigert. Rico, mit dem wir telefonieren, sagt, Jahir sei verzweifelt, er traue sich noch immer nicht allein auf die Straße. Mit dem näher rückenden Prozess nehme seine Angst noch zu, da er denkt, dass die Täter vor oder nach dem Prozess Racheaktionen gegen ihn planen.

Nach erneuten Telefonaten mit der Ausländerbeauftragten werden erneute Anträge auf Umverteilung in einen anderen Nachbarkreis gestellt. Diesmal rufen wir auch die Ausländerbeauftragte des Nachbarkreises an, erklären ihr die Lage und bitten sie, sich für Jahir einzusetzen. Nach Absprache mit Jahir schickt Rico ihr Kopien des Antrags und des amtsärztlichen Gutachtens. Endlich erhält Jahir den Bescheid, dass die Ausländerbehörde von Q. einer Umverteilung zugestimmt hat. Anfang des nächsten Monats ist es soweit. Jahir fällt es in der Zwischenzeit doch schwer, von den afghanischen und deutschen Freunden und Bekannten Abschied zu nehmen. Sie versprechen sich gegenseitig, in Kontakt zu bleiben.

Das neue Heim liegt etwas günstiger. Schon seit einiger Zeit gibt es hier zwischen dem Heim und Initiativen in der Stadt Kontakte. Eine RAA macht regelmäßig Deutschkurse für Flüchtlinge im Heim. Jahir bieten wir an, einen Kontakt zu der Initiative und der RAA herzustellen, aber das möchte er nicht. Wir sollen ihm nur die Adressen geben, er wolle sich selbst darum kümmern. Es gäbe auch im neuen Heim ein paar Afghanen, die er fragen könne.

11. Der Prozess

Zwei Monate später ruft uns der Rechtsanwalt von Jahir an, um uns mitzuteilen, dass der Prozess gegen die beiden Tatverdächtigten in zwei Wochen am frühen Nachmittag vor dem Amtsgericht der Kreisstadt stattfindet. Wir rufen im Heim an und verabreden uns mit Jahir für den Morgen vor Prozessbeginn im Heim und sprechen mit ihm ab, dass wir auch die Öffentlichkeit zu dem Prozess mobilisieren.

In Gesprächen mit Rico aus Ü. und André aus der Kreisstadt laden wir sie und ihre Freunde ein, sich den Prozess anzusehen. Ein Gerichtssaal voller »Ausländerfreunde« wird Jahir eine große Unterstützung sein, wenn er dort den Tätern wieder gegenübersteht. Außerdem ist so ein Prozess auch für die Jugendlichen eine wichtige Erfahrung. Darüber hinaus sprechen wir mit der Presse und weisen sie auf den Termin hin. Es sind kurz nach der Tat schon verschiedene Journalisten auf uns zu gekommen, die über uns in Kontakt mit Jahir treten wollten, um ihn zu interviewen. Jahir hatte dies bisher abgelehnt, jetzt aber zugestimmt, die Presse explizit einzuladen.

Am Morgen des Prozesses sind wir bei Jahir zum Frühstück. Wir besprechen mit ihm den Ablauf des Prozesses und reden lange über seine Gefühl, den Tätern wieder gegenüberzustehen. Um vor der Zeugenvernehmung nicht allein mit eventuellen Entlastungszeugen vor dem Gerichtssaal zu warten, bieten wir ihm an, ihm Gesellschaft zu leisten. Schließlich fahren wir gemeinsam zum Termin. Jahir freut sich, Rico und die anderen deutschen Jugendlichen wiederzusehen. Mit der Presse will er aber zuerst nicht reden. In einer kurzen Verhandlungspause allerdings ändert er dann doch seine Meinung und wir verabreden uns mit einem Journalisten zu einem Interview nach dem Prozess, unter der Voraussetzung, dass der Journalist Jahirs vollen Namen nicht nennt und kein Foto macht. Der Prozeß endet mit einer Verurteilung.

Jahir überlegt, ob er nun in einem Zivilprozess Schadensersatzansprüche anmeldet. Allerdings sind die Täter derzeit arbeitslos. Der »Titel«, den er sich im Prozess erwerben würde, wäre jedoch noch lange einforderbar. Jahir hat sich im neuen Heim eingelebt. Wenn er seine Freunde im alten Heim in Ü. besucht, geht er gelegentlich auch im »Turm« vorbei. Rico und seine Freunde vom Turm haben den Kontakt ins Heim ausgebaut. Sie helfen den Flüchtlingen regelmäßig beim »Ämterkram«, in den sie sich langsam einarbeiten, organisieren gemeinsame Feste …

In der Realität

Leider gibt es nicht überall einen »Rico«, auch die verschiedenen Ämter sind nicht in allen Fällen so entgegenkommend wie in diesem fiktiven Fall. In der Realität ist jeder Fall anders. Auch wenn sich bestimmte Problemfelder wiederholen, es kommen immer individuelle, neue Aspekte dazu, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können, ohne das Prinzip der Anonymität zu verlassen.

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