»Ich verzeihe ihm jetzt«

Heute, nach mehr als neun Jahren, möchte ich, Jan Weicht, mich bei Ihnen, Frau Angelica Berdes, Frau Efthimia Berdes und Herrn Orazio Giamblanco, für mein damaliges Verhalten entschuldigen. Ich habe mich so lange vor diesem Schritt gescheut und immer wieder Ausflüchte und Gründe gesucht, um diese Briefe vor mir weg zu schieben. Es lag daran, dass ich vor diesem Schritt sehr große Angst habe. Angst davor, nicht die richtigen Worte zu finden, wo ich mich einfach mal so entschuldige.

Sonntag, 3. Dezember 2006, Erster Advent. In ihrer Neubauwohnung in Bielefeld sitzen der schwerbehinderte Italiener Orazio Giamblanco und seine griechische Lebensgefährtin Angelica Berdes am großen Esstisch. Berdes’ erwachsene Tochter Efthimia kommt hinzu. Stille. Auf der blauen Weihnachtsdecke liegen 16 eng beschriebene weiße Blätter. Die Buchstaben sind klein, fast schon geduckt, aber die Sätze reihen sich akkurat und gerade aneinander. Geschrieben hat sie der ehemalige rechtsextreme Skinhead Jan Weicht. Er lebt nach seiner Entlassung aus der Haft wieder in seiner Heimatstadt Trebbin. Hier, wo es vor zehn Jahren geschah. Am Abend des 30. September 1996 schlug Weicht auf offener Straße mit seiner Baseballkeule zu. Sie traf Giamblanco mit voller Wucht am Kopf. Der eine Schlag reichte, um das Leben des Hilfsbauarbeiters zu ruinieren. Und das seiner Lebensgefährtin und ihrer Tochter weitgehend auf mühsame Pflege zu reduzieren. Zehn Jahre Qual. Und jetzt entschuldigt sich der Täter.

Seit dem ersten Besuch bei Giamblanco im April 1997, damals lag er nahezu reglos in einer Spezialklinik, berichtet der Tagesspiegel jedes Jahr, wie es dem Italiener und den beiden Frauen geht. Der Fall ist ein Beispiel für das nicht endende Leiden von Opfern rechtsextremer Gewalt und ihrer Angehörigen – auch lange nach der Tat, nach dem Prozess gegen einen Schläger, nach dem Verschwinden des Interesses der Öffentlichkeit.

Wie viele Giamblancos in Deutschland mit einer körperlichen Behinderung leben oder zumindest traumatisiert den Alltag durchstehen müssen, lässt sich nur ahnen. Das Bundeskriminalamt meldet in einer vorläufigen Statistik allein für die Zeit von Januar bis Ende Oktober dieses Jahres 375 Verletzte. Sie sind weitgehend unbekannt. Abgesehen von spektakulären Einzelfällen erfährt die Öffentlichkeit nicht mehr als die Zahlen der Polizei. Die meisten Opfer rechter Attacken, es müssen allein seit der Wiedervereinigung Tausende sein, werden in Deutschland vergessen.

Giamblancos Schicksal hat sich durch die Berichterstattung etwas gedreht. Zahllose Leser haben in den vergangenen Jahren ihre Solidarität bekundet, viele mit Spenden. Und nun meldet sich Jan Weicht. Ratlos und etwas ängstlich sitzen Giamblanco und die Frauen vor den zwei Briefen. In die Erinnerung an den Überfall vor zehn Jahren, in die innere Bilanz einer qualvollen Dekade dringt ein irritierendes Signal aus dem fernen Trebbin. Es kommt nicht plötzlich – dass Weicht sich entschuldigen wollte, konnte der Tagesspiegel schon vergangenes Jahr beim Besuch in Bielefeld andeuten. Doch der Kontakt mit dem Täter fällt Giamblanco und den Frauen auch ein Jahrzehnt nach der Tat schwer.

So sehr, dass sich die drei nur unter Bedingungen darauf eingelassen haben. Keinesfalls wollten sie von Weicht einen Brief an ihre Privatadresse geschickt bekommen. Der Reporter wurde gebeten, die Schreiben in Brandenburg abzuholen, nach Bielefeld mitzubringen – und sie vorzulesen. Die Sprache des Täters zu ertragen, erschien nur möglich, wenn sie aus dem Mund einer vertrauten Person zu hören ist. Jan Weicht akzeptierte und übergab im Februar die Briefe – einer ist nur an Giamblanco gerichtet, einer an ihn und die Frauen. Doch erst jetzt, beim Besuch des Tagesspiegels nach dem Jahrestag der Tat, sind die drei bereit, sich den Worten des Täters auszusetzen.

Wissen Sie, es ist sehr herzaufwühlend, wenn ich der Wahrheit jeden Tag aufs Neue ins Auge blicke. Denn mir wird bewusst, was ich damals für einen riesengroßen Fehler begann, indem ich Ihr Leben zerstörte und auch das Ihrer Familie. Aber gleichzeitig zerstörte ich auch das Leben meiner Familie und mein eigenes. Mir wird immer wieder vor Augen geführt, dass ich mit meinem damaligen Verhalten und meiner Verantwortungslosigkeit unserer aller Zukunft verbaut habe.

Ab und zu schreiben rechtsextreme Schläger den Opfern Briefe. Meist vor oder während eines Prozesses, um die Richter milde zu stimmen. Jan Weicht war während seines Verfahrens hart. Der kräftige, proletarische Bundeswehrsoldat zeigte im Frühjahr 1997 vor dem Landgericht Potsdam kaum Einsicht. Es lag auch an seinem Anwalt, einem zynischen NPD-Funktionär. Die Richter verurteilten Weicht zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes. Da brach der Rechtsextremist in Tränen aus. Doch in den ersten Jahren der Haft in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg gab er sich weiter unbeugsam. Erst als Weicht merkte, dass ihn die »Kameraden« vergaßen, sagte er sich von ihnen los.

In den Jahren meiner Inhaftierung bin ich nun endlich aufgewacht und musste der Realität ins Auge sehen, da ich feststellte, dass Personen, die ich damals aus der Sache raushielt, sich tatsächlich einen Dreck um mich scheren. Im Gegenteil, sie feierten auf ihren Partys ihren »Sieg« und lachten mich aus, was ich doch für ein Idiot und wie dumm ich gewesen bin. So habe ich für mich dann einen Entschluss gefasst und stieg aus der rechten Szene aus.

Weicht belastete sogar Exkumpane, die sich im September 1996 in Trebbin an Überfällen auf italienische Bauarbeiter beteiligt hatten. Dank der Aussage konnte das Amtsgericht Luckenwalde Ende 2002 einige Schläger verurteilen, die Strafen waren allerdings gering. Weicht machte im Gefängnis die neunte und zehnte Klasse nach, kam in den offenen Vollzug und dann auf Bewährung vorzeitig frei. Er versucht, sich mit kleineren Jobs eine Existenz aufzubauen. In Trebbin geriet er im August 2005 mit »den falschen Freunden« von früher aneinander, wie er im Brief schreibt, der nur an Giamblanco gerichtet ist. Es gab bei einem öffentlichen Fest eine lautstarke Auseinandersetzung, doch sie endete ohne Gewalt – und Weicht hat seitdem offenbar Ruhe.

Mehr als ein Jahr hat er gebraucht, bis die Briefe so geschrieben waren, wie Weicht sich und die Tat dem Opfer darstellen wollte. Der Bewährungshelfer gab Ratschläge. Die Sprache ist dennoch manchmal ungelenk, auch nicht frei von Selbstmitleid, doch vor allem ehrlich. Der heute 32 Jahre alte Weicht schildert, wie er als Kind unter der Lieblosigkeit des Vaters litt, der dann auch die Mutter sitzen ließ. Die Lebensgeschichte des ehemaligen Skinheads ähnelt in einigen Passagen häufig zu hörenden biografischen Angaben ostdeutscher Rechtsextremisten, die vor Gericht landen. Ein kaputtes Elternhaus, nachlassende Leistungen in der Schule, früher Suff, Kraftmeierei.

So ging ich in die eine oder andere Gaststätte und trank meinen Frust mit Alkohol herunter. Ich fühlte mich wie im Rausch des Vergessens und verdrängte meinen Schmerz. Doch dadurch staute sich in mir eine große Unzufriedenheit mit mir selbst an. Ab da an fing ich auch an, mich auf Discos zu prügeln. Mit diesem Verhalten machte ich falsche Freunde auf mich aufmerksam, welche mein idiotisches Verhalten guthießen.

Vielleicht hätte ihm die Bundeswehr Halt gegeben. Weicht meldete sich im Sommer 1996 zum Einsatz in Bosnien. Doch nach einem Urlaubsjob auf einer Großbaustelle, bei dem er sich wohlfühlte und von einem Vorarbeiter die lang ersehnte Anerkennung bekam, verzichtete Weicht auf das Balkan-Abenteuer. Er absolvierte weiter seinen Grundwehrdienst. Und fuhr am 30. September mit einem Kumpel und zwei Mädchen im Trabant durch Trebbin. Auf der Suche nach italienischen Bauarbeitern, die im Städtchen beschäftigt waren. Das wollte die örtliche Jungnazi-Gang nicht dulden. Weicht hatte im Trabbi seine Baseballkeule dabei. Orazio Giamblanco, der erst wenige Tage in Trebbin war, sprach von einer Telefonzelle aus mit seiner Lebensgefährtin. Als der Italiener rauskam, traf er auf Jan Weicht.

Ich war damals einfach nur der größte IDIOT der Welt, der sich mit falschem Stolz durchs Leben schlug. Ich dachte: »Mir gehört die Welt!« Ich wollte mich von niemand belehren lassen, deshalb überschritt ich sehr oft meine Grenzen und ich dachte dabei nicht an die Konsequenzen oder über deren Folgen nach.

Die Folgen. Giamblancos Leben konnte nur durch Notoperationen gerettet werden. Er leidet unter spastischer Lähmung, Depressionen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und kann nicht mehr richtig sprechen. Die wenigen hundert Meter zur Krankengymnastik im Klinikum Bielefeld schafft der Sizilianer nur im Elektrorollstuhl. Giamblanco macht auch das Alter zu schaffen – mit seinen 65 Jahren schwindet die Kraft, sich gegen die Behinderung zu stemmen.

Die zierliche, 55-jährige Angelica Berdes, die für die Pflege ihre Arbeit aufgab, ist seit Jahren in psychiatrischer Behandlung. Außerdem leidet sie unter Bluthochdruck und Rückenschmerzen, weil sie immer wieder Giamblanco hochwuchten muss. Im kommenden Jahr muss sie wegen eines Leistensbruchs operiert werden. Efthimia Berdes, so alt wie der Täter, brach ihre Ausbildung zur Friseurin ab. Der Chef hatte kein Verständnis für Fehlzeiten, die Efthimia wegen der aufwändigen Pflege für Giamblanco nicht vermeiden konnte. Jahrelang arbeitete die junge Griechin dann gar nicht, inzwischen verdient sie ein paar Euro als Hilfskraft in einer Schokoladenfabrik. Mehrere Freundschaften mit jungen Männern gingen in die Brüche – »weil die nicht akzeptieren wollten, dass ich meine Mutter mit Orazio nicht alleinelassen kann«, sagt Efthimia Berdes.

In der trostlosen Stimmung bleibt manchmal nur noch die Hoffnung auf ein Wunder. Als ein Bekannter im Sommer dieses Jahres einen angeblich besonders fähigen Heilpraktiker empfahl, wurden Giamblanco und die beiden Frauen euphorisch. Der Italiener hoffte, er könnte vielleicht schon Weihnachten an nur einem Stock laufen, und setzte alle Medikamente ab. Giamblanco verließ sich nur noch auf die Spritzen und andere Mittel des Heilpraktikers. »Aber Orazio wurde immer bleicher und bekam blaue Lippen«, sagt Efthimia Berdes, »dann war er auch so aggressiv, wie wir ihn nie erlebt haben.« Ihre Mutter habe nachts kaum noch schlafen können, da Orazio noch öfter wach geworden sei als sonst schon. »Habe schwere Zeit hinter mir«, sagt Giamblanco. Ende November entschieden die drei, das Experiment abzubrechen. Seitdem geht es Giamblanco etwas besser. Aber der Verlust der Illusion, es sei doch noch ein größerer Fortschritt möglich, schmerzt.

Ich weiß, dass ich die Zeit leider nicht zurückdrehen kann. Gerade deshalb ist es mir von großer Bedeutung, mich heute erstmals und persönlich bei Ihnen, Frau Angelica Berdes, Frau Efthimia Berdes und bei Ihnen, Herr Orazio Giamblanco, von ganzem Herzen für die damalige Tat zu entschuldigen. Es tut mir sehr leid, was ich Ihnen allen damit angetan habe. Hochachtungsvoll, Jan Weicht.

Schweigen. Angelica Berdes weint. Die Briefe des Täters haben sie mehr gerührt, als sie erwartet hat. »Das ist gut, dass er kapiert hat, was er uns für Schmerzen gemacht hat«, sagt Berdes. Sie überlegt. »Man muss einem Menschen verzeihen, er war ja auch jung.« Efthimia stimmt ihrer Mutter zu, »ich habe erkannt, dass die Briefe wirklich von seinem Herzen kommen«. Giamblanco zögert. Nein. Bevor er was sagen kann, muss er eine Nacht darüber schlafen. Die Frauen können noch so drängen.

Montag, 4. Dezember. Kurz vor der Gymnastik im Klinikum. Giamblanco steht alleine an einem Barren. Außer dem Reporter ist niemand in der Nähe. Giamblanco überlegt, keiner redet auf ihn ein. »Der Junge hat sich gute Gedanken gemacht.« Pause. »Er ist jung, er braucht Freunde für seine Zukunft, damit er keine falschen Sachen mehr macht.« Giamblanco blickt auf seine orthopädischen Stiefel. »Was mir passiert ist …« Langsam hebt er den Kopf. »Ich verzeihe ihm jetzt. Er soll sich gute Freunde suchen. Schlechte hatte er genug.«

Donnerstag, 7. Dezember. Jan Weicht erfährt am Telefon, dass ihm Giamblanco und die beiden Frauen verziehen haben. Und dass sie seine Briefe in Bielefeld behalten. Um sie eines Tages selbst zu lesen. Weicht holt tief Luft. Er räuspert sich. »Ich bin sprachlos.« Er atmet wie nach einem Sprint. »Ich hab’ gedacht, da hab’ ich niemals eine Chance. Jetzt fällt mir ein Riesenstein vom Herzen.« Weicht ringt um Worte. Er will sich nicht einfach nur freuen. Dann sagt er: »Eigentlich ist es ein Ansporn zu beweisen, dass man sich wirklich geändert hat. Und nicht irgendwann wieder resigniert.«

Aktuelles , ,