Das Martyrium des Herrn N.

Im Juni 2002 erfuhr die Opferperspektive durch eine Meldung in einer Lokalzeitung, dass in der Nähe von Bernau ein vietnamesischer Mann von Unbekannten zusammengeschlagen worden war. Die Bernauer Kontakt- und Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt fand heraus, dass es sich bei dem Opfer um Herrn N. handelte, der im lokalen Flüchtlingsheim lebte. Kurz darauf erhielt Herr N. einen Brief der Opferperspektive und meldete sich daraufhin telefonisch. Er bat die Opferperspektive, einen Termin mit der Heimleitung zu vereinbaren. Diese aber zeigte sich bei mehreren Telefonaten völlig desinteressiert. Briefe an Herrn N. wurden mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurückgesandt. Erst vier Monate später gelang es, direkt mit Herrn N. zu sprechen. Die BeraterInnen trafen auf einen schwer traumatisierten Mann, der Furchtbares erlebt hatte.

Alljährlich zu Pfingsten findet nördlich von Berlin das Harley-Davidson-Treffen statt. MotorradfahrerInnen aus ganz Deutschland reisen dazu an. Einen Tag nach der Veranstaltung geht Herr N. zusammen mit drei Freunden auf dem in einem Waldstück gelegenen Festivalgelände spazieren. An die Veranstaltung der Vortage erinnern eine Bühne, einige Wohncontainer, eine Hand voll Zelte und geparkte Autos. Ein rotes Auto fährt langsam an Herrn N. und seinen Freunden vorbei, die zurückgelassene Pfandflaschen aufsammeln. Das Auto hält, ein Mann beugt sich aus dem Fenster und ruft ihnen zu, sie mögen zu ihm kommen. Als er aussteigt, sieht Herr N., dass der Mann ein Gipsbein hat und auf Krücken geht. Er verlangt, den Inhalt der Plastiktüten zu sehen, die die Vietnamesen bei sich tragen. Als er die Pfandflaschen sieht, beginnt der Mann zu schreien und schlägt mit den Krücken nach den Männern.

Herr N. versteht nicht, er hat Angst. Die Vietnamesen laufen in verschiedene Richtungen davon. Herr N. nimmt den kürzesten Weg zum nahegelegenen Flüchtlingsheim. Als er sieht, dass er von einem schnell laufenden Mann mit einem Hund verfolgt wird, beschleunigt er seine Schritte. Herr N. versucht, Haken zu schlagen. Schließlich bricht er entkräftet zusammen.

Zwei Männer schlagen auf Herrn N. ein. Sie zwingen ihn, wie ein Hund zu kriechen. Andere Männer lachen und schreien. Ein Mann tritt Herrn N. gegen den Hals. Andere springen auf seinen Rücken. Der Mann mit dem Gipsbein zieht Herrn N. am Kragen hoch und spuckt ihm ins Gesicht. Die Männer drohen Herrn N., mit einem Messer seine Genitalien abzuschneiden. Herr N. fleht die Männer an. Sie reißen seinen Kopf zurück und übergießen ihn mit Alkohol. Herr N. sinkt auf die Knie und bittet um sein Leben. Er wird erneut getreten und bespuckt. Herr N. denkt jetzt, dass er sterben wird. Er ruft die Namen seiner Mutter und seines Vaters und verliert das Bewusstsein.

Herr N. berichtete den MitarbeiterInnen der Opferperspektive, dass er seit der Tortur unter Angstzuständen leide. Er habe starke Kopfschmerzen und Herzflattern, esse wenig und könne kaum schlafen. Zudem sei er seit dem Angriff inkontinent. Im Landkreis wurde sein Schicksal schlichtweg nicht beachtet.

Die Opferperspektive vermittelte Herrn N. an eine Psychologin, die eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte. Mit dem psychologischen Gutachten erwirkten die BeraterInnen beim Sozialamt eine Kostenübernahme für eine Psychotherapie und für Besuche bei verschiedenen FachärztInnen. Beim Ausländeramt konnten so genannte »Urlaubsscheine« erwirkt werden, die Herrn N. berechtigten, den Landkreis zu verlassen. Die BeraterInnen stellten mit Herrn N. Anträge auf Entschädigung aus dem Opferfonds der Bundesanwaltschaft sowie nach dem Opferentschädigungsgesetz. Bei der Aktion Cura wurde eine Kostenbeihilfe für eine Rechtsvertretung beantragt. Herr N. hatte bereits einen Anwalt, der ihn über den Stand des Verfahrens bislang nicht informiert hatte. Die Opferperspektive riet Herrn N., ihm das Mandat zu entziehen und vermittelte Herrn N. an eine erfahrene Nebenklagevertreterin.

Im Oktober 2002 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, weil die Täter nicht ermittelt werden konnten. Da sich zahlreiche Hinweise auf nicht gehörte Zeugen oder Täter in den Akten fanden, erhob die Rechtsanwältin sofort Einspruch. Die Kontakt- und Beratungsstelle Bernau diskutierte mit der Ausländerbeauftragten des Landkreises Wege, um den Angriff in der Kommune zu thematisieren; die Opferperspektive beriet mit der Landesausländerbeauftragten Möglichkeiten, politischen Druck zu entfalten, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Es wurde vereinbart, die Medienöffentlichkeit zu informieren, falls innerhalb von vier Wochen nichts geschehe.

Im Dezember 2002 nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf.

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