Der Tod von Kajrat Batesov

Kajrat Batesov
Kajrat Batesov

Max K. berichtete später, dass die beiden bemerkt hatten, dass sie auf der Techno- Veranstaltung als Russlanddeutsche »erkannt« wurden und offenbar »nicht erwünscht« waren. Mindestens fünf Personen hatten die beiden Freunde mit Tritten und Schlägen traktiert. Einer der Täter hatte schließlich einen schweren Feldstein auf Kajrat Batesov geschleudert. Zum Zeitpunkt des Anrufs lag der 24-Jährige auf der Intensivstation des Krankenhauses. Er verstarb auf Grund schwerer innerer Verletzungen am 23. Mai 2002.

»Ein rechtsextremer Hintergrund ist nicht auszuschließen«, ließ die Staatsanwaltschaft zunächst verlauten. Die fünf jungen Männer, die im Verlauf der kommenden Wochen verhaftet wurden, galten jedoch nicht als Angehörige der rechten Szene. Zwei MitarbeiterInnen der Opferperspektive hatten Kajrat Batesov einige Wochen zuvor kennen gelernt. Bei einem Besuch der Familie Batesov in Freyenstein nordwestlich von Wittstock hatten Kajrat und sein Bruder berichtet, wie schwierig sich das Leben für die NeuansiedlerInnen gestaltete. In der 200-Seelen-Gemeinde hatte die Familie keine Kontakte. Die Stimmung sei feindselig, und man vermeide es deshalb, das Haus »unnötig« zu verlassen. Einige Male seien Kajrat und sein Bruder zum Marktplatz gegangen, aber seitdem Jugendliche ihnen Bierflaschen hinterhergeworfen hatten, mieden sie auch diesen Ort. »Wie in einem Gefängnis ohne Gitter« – so beschrieb Kajrats Mutter Raissa Batesova die Lage der Familie.

Rechte Alltagskultur

Familien, die aus Russland in die Umgebung von Wittstock gekommen waren, berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Die MitarbeiterInnen gewannen den Eindruck, dass die AussiedlerInnen in der Region unter einem enormen Druck standen. Das quantitative wie qualitative Ausmaß der Feindseligkeiten gegen AussiedlerInnen schien in Wittstock im Vergleich zu anderen Brandenburger Kommunen außerordentlich hoch zu sein. Die Mehrzahl der Betroffenen zeigte sich aus Angst vor möglichen Folgen nur bereit, in anonymer Form über Angriffe und Beleidigungen zu berichten. Insgesamt dominierte bei den Betroffenen eine passive und abwartende Haltung. Nur wenige sahen einen Sinn darin, die Angriffe bei der Polizei anzuzeigen. Dies erklärt sich unter anderem damit, dass der überwiegende Teil der AussiedlerInnen mit der Perspektive lebt, den Landkreis gen Westen zu verlassen, sobald es die gesetzlichen Bestimmungen erlauben.

Kurze Haare, Glatzen, Springerstiefel, Bomberjacken – die rechtsextreme Symbolik ist auf den Straßen Wittstocks alltäglich, die Dominanz rechter Jugendkultur mit Händen zu greifen. Eine alternative, linke Subkultur hingegen ist in der Stadt nicht erkennbar. Schon seit mehreren Jahren gilt Wittstock als eines der Zentren der rechten Szene im nördlichen Brandenburg. Unter ihrem Kreisverbandsvorsitzenden Mario Schulz verfolgt die NPD hier erfolgreich die Strategie, lose rechte Cliquen an die Partei zu binden.

Die Polizei reagierte auf den Anstieg »extremistischer Straftaten« mit der Einrichtung der Sonderkommission »Täterorientierte Maßnahmen gegen extremistische Gewalt« (TOMEG) im Frühjahr 2002. Die TOMEG Nord befasst sich mit RechtsextremistInnen in Wittstock, Pritzwalk sowie im südlichen Mecklenburg. Nach eigenen Angaben umfasst ihr Klientel 115 »gewalttätige und dabei oft rechtsextreme« Männer, darunter 60 Witttstocker. Zum ideologisch harten Kern werden in Wittstock 15 Personen gezählt (Märkische Allgemeine Zeitung, 20.3.2002).

Auch die Stadt Wittstock zeigt Initiative. Nachdem im Herbst 2001 eine Versammlung von etwa 60 RechtsextremistInnen in einem Jugendclub der Stadt durch einen Polizeieinsatz aufgelöst werden musste, wurde das »Bündnis für ein tolerantes Wittstock – couragiert gegen Rechts« gegründet. Getragen wird das Bündnis vor allem von MitarbeiterInnen der städtischen Verwaltung und einigen wenigen engagierten BürgerInnen. Wie in vielen anderen Kommunen zeigen sich hier die strukturell eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten eines Bündnisses gegen Rechts, wenn an der kommunalen Basis keine alternative Gegenkultur vorhanden ist.

Russlanddeutsche: keine »idealen Opfer«

Im Frühjahr 2002 entschloss sich das Team der Opferperspektive, die Kontakte zu Kooperationspartnern und kommunalen Funktionsträgern zu nutzen, um als Interessenvertretung der AussiedlerInnen über deren Situation zu informieren und damit zu einer Sensibilisierung beizutragen. Die Beschränkung dieser Strategie war von Anbeginn offensichtlich, schien aber auf Grund der vorgefundenen Situation unumgänglich: Die OpferberaterInnen wussten um mehrere Angriffe, die Betroffenenaber lehnten es ab, die Öffentlichkeit mit ihrer Situation zu konfrontieren. Die Strategie der Opferperspektive wurde mit den KollegInnen des Mobilen Beratungsteams abgestimmt, die innerhalb des Bündnisses eine moderierende Funktion innehatten. Parallel dazu setzten die OpferberaterInnen die Besuche bei betroffenen Familien fort, um weiteres, zumeist anonymes Material über die Diskriminierung der AussiedlerInnen zusammenzutragen.

Sehr schnell wurde deutlich, dass sowohl MitarbeiterInnen der städtischen Verwaltung als auch Mitglieder des Bündnisses gegen Rechts sich außerordentlich schwer taten, Russlanddeutsche als Betroffene von rassistischer Gewalt wahrzunehmen. Antworten wie »Die sind ja auch selbst schuld, wenn sie angegriffen werden« waren eher die Regel als die Ausnahme. Diese Erfahrung kann in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eingeordnet werden. Der Gruppe der Russlanddeutschen wird häufig ein tendenziell zu selbstständiges, mitunter abweisendes Verhalten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben; eine Wahrnehmung, die quer zur sozialen Konstruktion des »idealen Opfers« steht. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben darauf hingewiesen, dass die Zubilligung eines Opferstatus eng an bestimmte Verhaltensregeln geknüpft ist: Dem »idealen Opfer« sollte von einem unbekannten, körperlich überlegenen Täter eine Gewalttat angetan worden sein, das Opfer sollte sich auf keinen Fall provokativ verhalten haben, sich nicht an einem unsicheren Ort aufgehalten haben und sich jederzeit kooperativ gegenüber Polizei und den Ermittlungsbehörden verhalten (vgl. hierzu Nils Christie, The Ideal Victim, New York 1986). Diese Verhaltensmaßstäbe stehen in deutlichem Widerspruch zur Wahrnehmung der Gruppe der AussiedlerInnen, nicht nur in Wittstock.

Der Tod von Kajrat Batesov markierte einen gewaltsamen Einschnitt. Ab Ende Mai 2002 erschien eine Reihe von Artikeln und Fernsehbeiträgen, die anlässlich des aktuellen Falles die Situation von AussiedlerInnen in Wittstock thematisierte. Innerhalb der Kommune konnten sich mit dem Rückenwind der Medienberichterstattung zunehmend jene durchsetzen, die den Ernst der Lage erkannt hatten. Aber auf Grund der jahrelangen Vernachlässigung integrativer Maßnahmen bestand kaum Kontakt zu AussiedlerInnen. Die Opferperspektive als einzige Organisation mit einer solidarischen Beziehung zu AussiedlerInnen wurde in dieser Lage zu einer wichtigen Brücke zwischen der Kommune und der russlanddeutschen Gemeinde.

Um diese Situation im Sinne der Betroffenen zu nutzen und deutlich zu machen, dass der Tod von Kajrat Batesov als die Spitze des Eisberges zu begreifen ist, beteiligte sich die Opferperspektive an einer Vielzahl von Gesprächsrunden. Mehrfach drängten die OpferberaterInnen die kommunalen Verantwortlichen, endlich auf die AussiedlerInnen zuzugehen. Die Opferperspektive führte auch verschiedene Einzelgespräche mit Polizei, JugendsozialarbeiterInnen und KirchenvertreterInnen, in denen immer wieder das Ausmaß der Angriffe und Diskriminierungen gegen AussiedlerInnen thematisiert wurde.

Inzwischen ist die Stadt auf die russlanddeutsche Gemeinde zugegangen. Eine Vielzahl von Maßnahmen zur Integration sind angelaufen. Dass der Ausgangspunkt dieser erfreulichen Entwicklungen in dem unnötigen und nicht wiedergutzumachenden Tod von Kajrat Batesov liegt, verleiht ihnen allerdings einen bitteren Beigeschmack.

Gedenken an Kajrat Batesov, 2002 von Rechten in Wittstock erschlagen (Foto: Opferperspektive)
Gedenken an Kajrat Batesov, 2002 von Rechten in Wittstock erschlagen (Foto: Opferperspektive)

Die Täter: durchschnittlich intelligent, sozial angepasst, fremdenfeindlich

Der Prozess gegen fünf Täter begann im Januar 2003 und endete nach 14 Prozesstagen im März. Der 23-jährige frühere Dachdeckerlehrling Patrick Sch. wurde als Haupttäter zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die zuständige Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin zeigte sich überzeugt, dass er es war, der den 17 Kilogramm schweren Feldstein auf den am Boden liegenden Kajrat Batesov geschleudert hatte. Vor diesem Steinwurf, der nach Aussagen eines unbeteiligten Zeugen mit großer Wucht ausgeführt wurde, hatten drei der Täter Kajrat Batesov und seinen Freund Max K. bereits durch Schläge und Tritte schwer verletzt. Sie erhielten Haftstrafen zwischen zweieinhalb und sieben Jahren. Der fünfte Täter kam mit einem Jahr auf Bewährung davon. Er hatte versucht, eines der Opfer zu schlagen und später die Mittäter nicht zurückgehalten.

Die jungen Männer, die sich selbst als »Techno-Clique« beschrieben, waren bemüht, sich von der organisierten rechten Szene Wittstocks abzugrenzen. Zwar kenne man sich – so der Angeklagte Mike Sch. am ersten Prozesstag –, jedoch höre man andere Musik. Allerdings wird gerade ihm, der im Jahr 2001 schon einmal aneinem Übergriff gegen AussiedlerInnen beteiligt gewesen sein soll und auf dessen Handy die Polizei damals ein Hakenkreuz-Symbol fand, eine große Nähe zur rechten Szene nachgesagt. Nicht so den anderen Angeklagten. Nichts an ihnen schien das Klischee tumber Glatzköpfe zu bedienen. Das Gericht attestierte ihnen vielmehr eine »durchschnittliche Intelligenz, soziale Angepasstheit und ein geordnetes familiäres Umfeld«.

Allerdings gestand Marco F., dass er »Bleib endlich liegen, Scheiß-Russe!« rief, während er mindestens zehn Mal hart zutrat. Und der Angeklagte Ralf A. soll, während er auf Kajrat Batesov saß und ihn mit beiden Fäusten traktierte, ausgerufen haben: »Ihr seid die, die unser Land …« Das Gericht zeigte sich am Ende davon überzeugt, dass »die Tat auch darauf beruhte, dass es sich bei den Geschädigten um Fremde handelte«, den Tätern bescheinigte die Richterin eine »diffuse Fremdenfeindlichkeit«.

Raissa Batesova, die Mutter des Toten, und das überlebende Opfer Max K. traten mit Hilfe der Opferperspektive als NebenklägerInnen im Prozess auf. Am letzten Tag des Verfahrens richtete Frau Batesova das Wort an die Angeklagten: »Das Leben eines Menschen, der nicht ihre Sprache spricht, ist ihnen nichts wert.« Nach zwei Monaten, in denen sie dem Prozess beigewohnt habe, sei ihr deutlich geworden, dass die Angeklagten weder Reue noch Schuld fühlten. Frau Batesova hatte zudem den Eindruck gewonnen, dass sich »eine ganze Stadt mit diesen jungen Menschen solidarisch erklärt.« Sie könne nicht glauben, dass »so viele Menschen
dabei waren und sagen, sie hätten nichts gesehen.« Damit hatte die Mutter des Toten die mehr als 40 ZeugInnen aus der Techno-Szene Wittstocks im Blick. Obwohl Dutzende der Tat zugesehen haben müssen, fand sich niemand, der den Steinwurf bezeugen wollte. Lediglich ein unbeteiligter Nachbar, der zufällig aus dem Fenster gesehen hatte, bezeugte mit stockender Stimme, wie eine Person den schweren Stein mit Wucht auf den am Boden liegenden Mann geworfen habe.

Die ZeugInnen: Eine Mauer des Schweigens

Diese »Mauer des Schweigens«, wie der Staatsanwalt sich ausdrückte, zeugt von einem stillen Einverständnis zwischen den Tätern und der Mehrzahl der ZeugInnen. Die Ursache dieser unreflektierten Solidarität ist in einer Mischung aus kleinstädtischem Milieuverhalten und einer geteilten rassistischen Einstellung zu suchen. Die entsprechende Haltung war während des Prozesses bei vielen der ProzessbesucherInnen zu spüren. So konnte man sich auf Grund der ab und zu auftretenden Heiterkeit auf den Zuhörerbänken nicht des Eindrucks erwehren, es würde ein Jugendstreich verhandelt und nicht der tragische Tod eines Menschen. Bis zum Schluss blieb der Eindruck bestehen, dass ein Großteil der anwesenden ZuhörerInnen aus dem sozialem Umfeld der Täter das Ausmaß der Menschenverachtung, das dem Tatgeschehen innewohnte, nicht begriffen hatte.

Der Wittstocker Bürgermeister zeigte sich nach der Urteilsverkündung zufrieden. Dass er allerdings betonen musste, Wittstock sei »nicht rechter als andere Städte in Brandenburg«, zeugt mehr von dem Wunsch nach trügerischer Normalität als von einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Tat, ihren Umständen und den Verhältnissen, die sie ermöglichte.

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