Prozessbericht: Wriezenverfahren


Für Gino S. (17 J.) war die Hauptverhandlung jedoch bereits am zweiten Tag vorerst beendet. Das Gericht trennte sein Verfahren ab, um ihn psychatrisch untersuchen zu lassen. Dies hatte sich als notwendig erwiesen, nachdem bekannt gworden war, das Gino S. noch kurz vor der Tat wegen Verhaltensauffälligkeiten in psychatrischer Behandlung war. Somit muss zunächst der Grad seiner Schuldfähigkeit festgestellt werden.

Was war nun eigentlich passiert?

Am 10. März 2000 sammelten sich bis zu 25 junge Männer, um in Wriezen auf »Zeckenjagd« zu gehen. Drei alternative Jugendliche wurden von ihnen angegriffen, unter ihnen der 14jährige Oliver S.. Er wird durch Fusstritte und Schläge mit einem Baseballschläger so schwer verletzt, dass er nur Dank schneller ärztlicher Hilfe überlebte.

Beachtenswert ist hierbei, dass die Angeklagten bereits eine Woche vorher die Tat mit großem Aufwand geplant hatten.

Angriffe auf alternative Jugendliche in Wriezen werden von den Opfern sowie Tätern und auch von Teilen der Bevölkerung als normal tituliert, das geschehene Unrecht schweigend hingenommen. Die Hemmschwelle der Täter scheint dadurch immens gesunken, denn wie sonst liesse sich erklären, dass sich eine solch große Gruppe in einer kleinen Stadt wie Wriezen versammelt, zu einem Zeitpunkt, an dem noch Geschäfte geöffnet sind und Menschen einkaufen gehen und niemand in dieser Gruppe auf den Gedanken kommt, daß man ihre Tat zwangsläufig beobachten/entdecken wird und die Gefahr von entsprechenden Konsequenzen ziemlich hoch ist.

Die Angeklagten hatten sich zum Beginn des Verfahrens recht umfangreich zum Tathergang eingelassen und sich teilweise klar zu ihrer rechten Gesinnung bekannt. Die Aussagen stimmten auch über weite Strecken mit den restlichen Ergebnis der Beweisaufnahme überein, so dass die Rekonstruktion des eigentlichen Tathergangs zu den geringeren Problemen des Verfahrens gehörte.

Schwieriger war es da schon, die Angeklagten anhand ihrer jeweiligen Tatbeiträge in eine Beziehung zur Tat zu bringen. Insbesondere die Angeklagten Hans G. (18 J.), Maik R. und Mirko Z. (21 J.) entschuldigten sich damit, dass sie zum Einen nur rein zufällig dabei gewesen seien und nicht gewusst hätten, was passieren sollte. Soweit sie doch mitbekommen hatten, was die Menge vor hatte, hätten sie sich niemals vorstellen können, dass alles so schlimm werden würde. Zum Anderen seien sie ja auch nur lediglich Auto gefahren, hätten mit der Tat und den aus ihr resultierenden Folgen nur wenig zu tun.

Hier hat das Gericht eindeutig festgestellt, dass alle Angeklagten als Täter zu behandeln seien und sich die Handlungen der Personen, die Oliver S. zusammengeschlagen haben, vorwerfen lassen zu müssen.

Zudem das Gericht den Angeklagten nachweisen konnte, dass sie bereits vorher vom Tatplan informiert waren und am Tattag nicht die Möglichkeit genutzt hatten sich von der Tat zu distanzieren.

Die Tat, die sogenannte »Zeckenjagd«, wurde bereits eine Woche vorher geplant, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen, oder die Möglichkeit entlarvt zu werden, zu verschwenden. Begründet wurde sie, als Racheakt für den Verrat von Tobias H. (16 J.), welcher zuvor für den Besitz von rechten Propagandamaterial in der Schule überführt wurde und einen Schulverweis erhielt.

Das Gericht verhängte gegen die ›Autofahrer‹ Gefängnisstrafen von 1 bis 2 Jahren, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurden, entzog ihnen die Fahrerlaubnis und setzte somit ein deutliches Zeichen, was die Beteiligung an derartigen Straftaten angeht.

Sehr intensiv hat sich das Gericht offenbar mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Tat auch als versuchter Mord zu werten sei. Es lehnte im Ergebnis einer Bestrafung wegen dieses Tatbestandes ab, weil letztlich nicht hinreichend klar gewesen sei, wie und durch wen die schweren und beinahe tödlichen Verletzungen veursacht worden seien.
Der insoweit angeklagte Raphael N. (18 J.) erhielt mit vier Jahren Gefängnis trotz allem eine Bestrafung, die nur ein Jahr unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmass lag, wobei diese von einem versuchten Mord ausgegangen waren.
Interessant waren auch die Nachforschungen und Fragen nach der Einstellung der Angeklagten.

Die Angeklagten Raphael N., Marco B. (17 J.) und Tobisa H. bekannten, zum Tatzeitpunkt eine »rechte Einstellung« vertreten zu haben. Durch die Folgen dieser Tat hätten sie jedoch diese überdacht und stehen ihr nun angeblich negativ gegenüber und entschuldigen sich für das, was sie Oliver S. angetan haben. Die Opfer nahmen die Entschuldigung nicht an. Ein Wechsel der Gesinnung war zumindest bei Raphael N. wenig glaubwürdig. Noch in der Untersuchungshaft tauchten in seinen Briefen immer wieder Äußerungen rechtsextremen Inhalts auf. Aber auch die Art und Weise, in der er sich im Verfahren äußerte, begründeten diese Zweifel.

Die anderen drei Angeklagten wiesen eine rechte Einstellung weit von sich. Dem Erscheinungsbild nach und ihrer sozialen Integration, passten sie auch nicht in jenes Klischeebild vom rechten Jugendlichen, nach dem das Gericht immer wieder suchte. Allerdings machte auch hier der Sprachgebrauch während ihrer Einlassungen sowie ihr Bild von alternativen Jugendlichen und fremden MitbürgerInnen klar, aus welchen Hintergrund sie sich an der Tat beteiligt hatten.

Um so positiver ist festzuhalten, dass das Gericht die rechte Gesinnung aller Angeklagten in seinem Urteil festgestellt hat. Es sprach insoweit von einer Saat in den Köpfen der Angeklagten, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden könne.

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