»Wir sind Gefangene auf unbestimmte Zeit«

Verehrte Damen und Herren,

wir, die Asylbewerber in Rathenow, zeigen uns sehr dankbar über Ihre Antwort auf unser Memorandum vom 26.04.2000. Wir übersandten Abschriften dieses Memorandums außerdem an den Bundespräsidenten, den Bundeskanzler, das Bundesverfassungsgericht und an das Plenum des Deutschen Bundestages, ohne allerdings bisher eine Antwort von diesen Stellen erhalten zu haben.

Obwohl Ihre Antwort nicht zufriedenstellend für uns ausfiel, sehen wir darin die Möglichkeit, noch einmal zu beschreiben, was wir täglich erleben müssen. Niemand empfindet die Unerträglichkeit unserer Lebensbedingungen wie wir. Mit unserem Memorandum wollten wir auf die Tatsache hinweisen, dass die Serie rassistische Angriffe, der wir ständig ausgesetzt sind, teilweise an dem stereotypen Erscheinungsbild von Asylbewerbern in der Öffentlichkeit liegt, zu dem die Asylgesetze uns machen. Diese Gesetze degradieren uns Flüchtlinge zu Bürgern zweiter Klasse und schaffen Angriffsflächen für rechtsextreme Hooligans und Gewalttäter. Es kommt in letzter Zeit immer häufiger zu Angriffen auf Ausländer, die keine Asylsuchenden sind. Das Leben der Ausländer aller Nationalitäten ist gleichermaßen bedroht.

Verehrte Damen und Herren, wir sind bestürzt darüber, dass Sie in Ihrem Antwortschreiben nicht auf das erschreckende Problem des rechtsextremistischen Vandalismus eingegangen sind, das diese Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür befallen hat. Unsere Nerven liegen jedes Mal blank, wen wir daran denken, ins Stadtzentrum oder zu anderen öffentlichen Plätzen zu gehen. Sie finden in uns Zeugen einer rasant um sich greifenden Xenophobie. Obwohl das Dogma der Rechtsextremisten ohnehin der Kampf gegen Ausländer ist, wurde dieser Hass durch die von uns beklagten gesetzlichen Bedingungen gefördert. Wie wir bereits deutlich gemacht haben, teilen alle Ausländer unser Schicksal, da sie auf ihrem Körper keinen Schriftzug tragen, der sie als Asylsuchende ausweist. Es seien einige Beispiele zu Veranschaulichung genannt: der Mosambikaner, der erst kürzlich von Rechtsradikalen in Dessau zu Tode geprügelt wurde, lebte seit über 20 Jahren in Deutschland. Er war mit einer deutschen Frau verheiratet und hinterlässt Kinder. Einige Tage später hetzten in Leipzig Rechtsradikale ihre Hunde auf einen indischen Wissenschaftler.

Verehrte Damen und Herren, weil diese Liste der Xenophobie immer länger wird, appellieren wir an Sie, davon abzusehen, weiterhin durch Politik und Gesetzgebung Grenzen zwischen uns Flüchtlingen und der deutschen Bevölkerung zu errichten, damit rechtsradikales Denken und Handeln zu einem Ende kommt.

Verehrte Damen und Herren, als der angesehene Astronaut Ulf Merbold sich auf einem seiner Weltraumflüge befand, schaute er auf unseren wundervollen Planeten Erde und sagte: »Was mir besonders auffällt: Man sieht keine Ländergrenzen. Ich habe schlagartig begriffen, dass die auf Landkarten eingezeichneten Grenzlinien Geburten in den Köpfen von Menschen sind.«

Diese Grenzen existieren jedoch nicht nur in den Landkarten, sondern sind ebenso in der Gesellschaft auszumachen. Sie haben dazu geführt, dass die eine Gruppe der Menschen die anderen als ihre Feinde betrachtet, die ihre Lebensgrundlagen bedroht. Sie sagen uns: »Ausländer, was wollt ihr hier? Wir hassen euch, weil ihr Ausländer seid. Wir kämpfen für unser Land, haut ab in euer eigenes Land und bekämpft gefälligst die Ausländer dort!«

Verehrte Damen und Herren, ein anderer Punkt in Ihrer Antwort, der uns wie ein Hammerschlag getroffen hat, ist der Begleitbrief des Bundesinnenministeriums. Wenn wir Sie richtig verstanden haben, sollen sich Asylbewerber während der ersten drei Monate nach Antragsstellung der Einschränkung ihrer bürgerlichen Freiheiten unterwerfen. Wenn dem so ist, fragen wir, was ist mit den folgenden Monaten und Jahren? Wir haben Sie bereits darauf hingewiesen, dass manche von uns in dieser dumpfen, erbärmlichen, beklagenswerten und unmenschlichen Situation ein bis zehn oder mehr Jahre leben. Wir möchten Sie auf die Tatsache hinweisen, dass es in dieser Gesellschaft eine Gruppe von Menschen gibt, die ihrer angeborenen Rechte für einen unbestimmten Zeitraum beraubt sind. Lassen Sie uns diesen Begriff des unbestimmten Zeitraumes einmal aufgreifen. Setzen wir voraus, dass ein Mensch, der seiner angeborenen Rechte beraubt ist, als Gefangener anzusehen ist, kommen wir mit Recht zu der Erkenntnis, dass Deutschland über die höchste Anzahl an inoffiziellen Gefängnissen verfügt: die Flüchtlingslager. Übertragen wir dies auf Europa, bleibt nichts anderes, als zu sagen, Europa verfügt über die meisten inoffiziellen Gefängnisse.

Keine Bewegungsfreiheit, kein freier Zugang zu Bildung, keine Freiheit einzukaufen, keine Freiheit zu arbeiten, keine freie Privatsphäre in unseren Zimmern. Hinzu kommt noch, dass unsere Unterbringungen fast immer am Stadtrand und sogar in Wäldern isoliert von der Gesellschaft gelegen sind.

Verehrte Damen und Herren, wenn Sie in den letzten Wochen die rechtsradikalen Aktivitäten genau verfolgt haben, werden Sie bemerken, dass beinahe jeder beliebige Ort von rechtsradikalen Gewalttätern heimgesucht wird, besonders wenn dort ein Flüchtlingslager zu finden ist. Als Beispiele dienen Cottbus, Leipzig, Ludwigshafen, Dessau, Erfurt, Prenzlau, Eisenach und vermutlich auch Düsseldorf. Ein wesentlicher Grund für diese Angriffe ist, dass viele Deutsche uns aufgrund unserer heruntergekommenen Lebensbedingungen als Menschen zweiter Klasse ansehen. Und nun spielen sie mit unserem Leben wie Kinder mit Spielzeug. Sie verprügeln uns Tag für Tag, sie verwunden uns Monat für Monat und sie töten uns Jahr für Jahr. Wir sind den Rechtsradikalen hilflos ausgeliefert.

Sehr verehrte Damen und Herren, wir wenden uns mit der Bitte an Sie, in Ihrem Hohen Amt, unser Memorandum nicht zurückzuweisen, sondern ihm die notwendige Beachtung zukommen zu lassen. Unser Memorandum nicht zu beachten bedeutet mehr, als ein bloßes Blatt Papier von Ihrem Schreibtisch zu fegen, es bedeutet:

  • Nichtbeachtung der Erklärung der Menschenrechte von 1948
  • Nichtbeachtung der Wiener Konvention von 1951
  • Nichtbeachtung der Magna Carta und letztendlich
  • Hinnahme der Xenophobie.
  • Wir hoffen auf Ihr Verständnis und wünschen uns, dass unser Memorandum Beachtung findet.

    Sprecher der Asylsuchenden in Rathenow

    Christopher Nsoh, Mohammed Abdel Amine
    Afantodji Koku

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