Im Herbst ist die Qual am größten

BIELEFELD Die linke Faust des Mannes ist in die gefalteten Hände seiner Frau gedrückt. Die rechte Hand umklammert den Griff einer Krücke. Langsam kommt das Paar näher. Nur wenige Meter sind von der Toilette über den Flur bis zum Wohnzimmer zu bewältigen. Der kleine, untersetzte Mann schiebt den rechten Fuß vor und zieht das linke Bein nach. Dann die Krücke. Pause. Wieder hebt sich der rechte orthopädische Stiefel um drei, vier Zentimeter, kommt eine Sohlenlänge voran, nun schlurft der linke Stiefel hinterher. Schließlich ist es geschafft. Gemeinsam drehen sich Mann und Frau um 180 Grad, dann lässt er sich in den Stuhl mit den zwei Sitzkissen fallen.

Orazio Giamblanco ächzt. Seine Lebensgefährtin Angelica Berdes rollt ein Tischchen heran und stellt zwei Becher darauf, einen mit Kaffee, einen mit Wasser. Giamblancos rechte Hand greift nach dem Kaffeebecher und hebt ihn, als wiege er mehrere Kilo, langsam zum Mund. Ein kleiner Schluck, noch einer. Dann senkt sich der Becher in Zeitlupentempo auf den Tisch. Orazio Giamblanco zieht den linken Mundwinkel ein wenig hoch. Die Andeutung eines Lächelns. Es hat alles geklappt. Der Besucher konnte und sollte es sehen: kein Rollstuhl. Auch kein Gehgestell mit Rollen mehr. Nur noch die Krücke und die zur Stützkuhle gefalteten Hände der Frau. »Bisschen besser«, nuschelt Giamblanco, »manchmal geht, manchmal geht nicht«.

Drei Jahre ist es jetzt her, dass der Italiener in Trebbin (Landkreis Teltow-Fläming) zusammengeschlagen wurde. Es geschah am Abend des 30. September 1996. Ein rechtsextremer Skinhead holte mit seiner Baseballkeule aus und traf Giamblancos Kopf. In zwei Notoperationen konnte das Leben des gerade erst von Bielefeld für einen Job nach Brandenburg gekommenen Bauarbeiters gerettet werden. Das Leben …? Im ersten Jahr nach dem Verbrechen, für das der Täter zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde, lag Giamblanco meistens im Bett einer Klinik, erst in Brandenburg, dann in Westfalen. Bestenfalls saß er in seiner Bielefelder Wohnung im Rollstuhl. Sprechen war fast unmöglich. Dazu Kopf- und Gliederschmerzen, Schlaflosigkeit, beinahe permanente Depressionen. Ein Zustand näher am Tod als am Leben. Doch gegen Ende des zweiten Jahres gelang es Angelica Berdes und ihrer Tochter Efthimia, Orazio Giamblanco zu einem längeren Aufenthalt nach Griechenland zu transportieren, dem Heimatland der beiden Frauen. Die vom Arzt empfohlene Reise wurde mit einem Teil der 32.000 Mark bezahlt, die Tagesspiegel-Leser für Giamblanco gespendet hatten.

Das mediterrane Klima tat dem Italiener gut. Er gab seinen Widerstand gegen das Gehgestell mit den Rollen auf und trainierte, Zentimeter für Zentimeter, fast jeden Tag. Im dritten Jahr gelang die Umstellung auf die Krücke und eine Handkuhle von Angelica oder Efthimia Berdes. Orazio Giamblanco, heute 58 Jahre alt, befindet sich wieder näher am Leben als am Tod. Solange eine der Frauen in seiner Nähe ist, um ihn aufzufangen. Seelisch, bisweilen auch physisch.

Als der dritte Jahrestag des Verbrechens nahte – Giamblanco und die Frauen sprechen immer nur vom »Unfall« – wurde der Italiener wieder depressiv. »Habe geweint im September«, sagt Giamblanco, obwohl er sich an das genaue Datum gar nicht erinnern konnte. Es hat sich auch niemand aus Trebbin oder Brandenburg gemeldet, um sich nach dem Befinden des Opfers zu erkundigen. Dennoch versuchte Giamblanco im September, in der kleinen Wohnung den ersten freien Schritt seit drei Jahren zu machen. Es ging nicht. Giamblanco fiel um und blutete stark aus dem Mund. Efthimia Berdes rief den Notarzt. Die Verletzung war dann doch nicht so gravierend wie befürchtet, doch Giamblancos Mut war erschüttert. Ein weiterer Versuch ist tabu, »nein, nicht mehr«, er hebt die rechte Hand. Angelica Berdes nickt, »nur mit der Krücke«.

Die 48 Jahre alte, zierliche Frau und ihre 25-jährige Tochter tragen, im Wortsinn, die Hauptlast. Da sind nicht nur die körperlichen Strapazen, wenn Giamblanco gestützt werden muss, und der zwangsläufige Verzicht auf bezahlte Arbeit. Angelica und Efthimia Berdes müssen sich auch dem monotonen Alltag eines Schwerstbehinderten anpassen, der die meiste Zeit in der mit orthopädischem Gerät vollgestopften Wohnung verbringt. Angelica Berdes beschreibt den üblichen Tagesablauf: »Sieben Uhr steht er auf. Das dauert. Dann Waschen, dauert eine Stunde ungefähr. Nach dem Essen kommt um 10 Uhr 25 ein Wagen vom Roten Kreuz und bringt Orazio zur Gymnastik. Ich geh’ immer mit.« Die Frau holt Luft. »Von elf bis zwölf Gymnastik. Wir gehen aber immer etwas früher, weil Orazio Probleme mit den Toiletten hat. Dann essen wir was zu Hause. Hinterher muss Orazio zwei Stunden schlafen, Pause machen. Nachmittags laufen wir ein bisschen in der Wohnung oder im Hausflur.« Manchmal holt Angelica Berdes ein kleines orthopädisches Fahrrad aus dem Keller, damit Giamblanco seine Beine trainieren kann. Der Italiener zieht wieder einen Mundwinkel hoch. Diesmal aber nicht als Zeichen der Zufriedenheit, »bin schnell schlapp«. Giamblanco zieht dem Versuch, in die Pedale des orthopädischen Fahrrads zu treten, das Gehtraining mit Angelica oder Efthimia Berdes vor.

Nach dem Abendessen »laufen wir noch ein bisschen«, erzählt Angelica Berdes, »oder Orazio guckt Fußball im Fernsehen. Das macht er gerne«. Doch den Blick ins flimmernde Bild könne er nicht lange ertragen, genauso wenig das Anhören von Musik. Die Lektüre italienischer Sportzeitungen, vor dem Überfall ein unverzichtbares Ritual, schafft Giamblanco auch nicht mehr. Doch er rafft sich immer wieder mal zu kleinen Kraftakten auf. So wird dem Besucher, weil er trotz Nachfragen den Namen des sizilianischen Heimatdorfes nicht verstanden hat, in den Block geschrieben: AGIRA. Krakelig, aber lesbar. Ein Erfolg. Jetzt geht wieder der linke Mundwinkel hoch. Aus Freude.

»Die psychische Verfassung ist besser geworden«, sagt Giacinto Saccomanno. Der in Bielefeld praktizierende Internist betreut den Landsmann. »Giamblanco hat weniger Depressionen. Das ist eine tolle Leistung der Familie«, Saccomanno nickt anerkennend Efthimia Berdes zu, die in die Praxis mitgekommen ist. Doch der Arzt hat nicht nur tröstende Worte bereit. »Insgesamt wird der Zustand jetzt so bleiben«, meint Saccomanno. Allenfalls »fünf bis zehn Prozent Besserung« seien noch zu erwarten, »in zwei, drei oder fünf Jahren«. Zurzeit leide Giamblanco vor allem unter Schluckbeschwerden, weil durch den Hieb mit dem Baseballschläger auch Mund- und Halsmuskulatur dauerhaft geschädigt wurden. Efthimia erwähnt zudem häufig auftretende Rückenschmerzen. Saccomanno hebt die Schultern. Einen vergleichbaren Fall habe er in den 15 Jahren als Internist nicht gehabt. Ob zu erwarten ist, dass Giamblanco irgendwann ein paar Schritte ohne Krücke wagen kann? Saccomanno zögert. »Wunder gibt es immer«. Efthimia Berdes prompt: »Darauf hoffen wir.«

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