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Was erfasst die Opferperspektive in ihrem Monitoring rechter Gewalttaten?

Hyperlinks:

Die Opferperspektive erfasst fortlaufend sämtliche Gewalttaten in Brandenburg, die nach Auffassung der Beratungsstelle „rechtsmotiviert“ sind. Die Vorfälle werden gesammelt und jährlich in einer Jahresstatistik veröffentlicht. Die einzelnen Vorfälle werden aber auch schon vorher, nach Absprache mit den Betroffenen, in unserer Chronologie öffentlich gemacht.

Es schließt sich die Frage an:

Was bedeutet rechtsmotiviert?

In der Definition des Begriffs rechtsmotiviert folgt die Opferperspektive weitestgehend, wie sämtliche im Dachverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer, und antisemitischer Gewalt (VBRG) zusammengeschlossenen Projekte, dem polizeilichen Definitionssystem der Politisch motivierten Kriminalität – Rechts (PMK-rechts) des Bundeskriminalamtes:

„Der wesentliche Kerngedanke einer „rechten” Ideologie ist die Annahme einer Ungleichheit/Ungleichwertigkeit der Menschen.“ Als PMK- rechts zählt demnach, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie sich gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.“
Bundesministerium des Inneren/ Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität.
Berlin 2016

Welche Tatmotivationen werden als „rechts“ erfasst?

Antisemitismus
Rassismus (Antischwarzer Rassismus, Antimuslimischer Rassismus, Antiasiatischer Rassismus, Antislawischer Rassismus, Antiziganismus)
wegen sexueller Orientierung/Identität (gegen LGBTIQ*-Personen)
Sozialdarwinismus (gegen Menschen mit Behinderung, Wohnungslose, Suchterkrankte o.ä.)
gegen politische Gegner:innen ( gegen politisch Aktive, politische Verantwortungsträger:innen, Journalist:innen, alternative Jugendliche)
gegen Nichtrechte

Sollte es erforderlich sein, weil im Zuge der Dynamik rechter Mobilisierung und Ideologiebildung neue Tatmotivationen oder Betroffenengruppen im Fokus stehen, können auch zusätzliche Tatmotivationen gesondert erfasst und ausgewiesen werden. Zuletzt war dies bei Gewalttaten, die aus dem verschwörungsideologischen Milieu mit Bezug zur Corona-Pandemie verübt wurden, der Fall.

Welche Straftatbestände werden durch die Opferperspektive als Gewalttaten gewertet?

Bei der Erfassung der Gewalttaten orientiert sich die Opferperspektive aus Gründen der statistischen Vergleichbarkeit an dem engen Gewaltbegriff der Strafverfolgungsbehörden. Das heißt, dass es nahezu ausschließlich um Taten geht, bei denen Menschen körperlich angegriffen werden und bei denen versucht wird, diese Menschen in ihrer körperlichen Unversehrtheit zu verletzen. Rassistische Diskriminierungen, Beleidigungen oder rechte Propagandadelikte werden nicht in der Statistik erfasst. Ebenso finden sich Taten, die unter einen weiten Gewaltbegriff fallen (bspw. psychische oder strukturelle Gewalt), nicht in der Statistik wieder. Dies soll aber keine Abwertung solcher Vorfälle im Sinne von „weniger schlimm“ darstellen.

Die Definitionen der erfassten Straftatbestände orientieren sich an den Definitionen des Strafgesetzbuches (StGB):

Einfache Körperverletzung (§223) – Ein körperlicher Angriff durch eine allein handelnde Person, ohne Zuhilfenahme einer Waffe oder anderer gefährlicher Gegenstände (Flasche, Stahlkappenschuhe o.ä.)
Gefährliche Körperverletzung (§224) – Ein körperlicher Angriff, der entweder gemeinschaftlich aus einer Gruppe begangen wurde, oder der in der Tatbegehung folgende Merkmale aufweist: Mittels einer Waffe oder anderer gefährlicher Gegenstände begangen, oder mittels einer lebensgefährlichen Behandlung (Schläge und Tritte gegen den Kopf)
Schwere Körperverletzung (§226) – Ein körperlicher Angriff mit schweren und dauerhaften Tatfolgen, bspsw. Der Verlust von Gliedmaßen, oder des Seh-, Hör-, und Sprechvermögens.
Tötung
Brandstiftungen ( nach den Kriterien von §306, §306a, §306b)
Sonstige Gewaltstraftaten, wie z.B. Raub (§ 249ff). Auch Landfriedensbruch (§125) wird in der Statistik unter „Sonstige“ gefasst, wenn es sich bei der begangenen Straftat nicht um ein Demonstrationsdelikt handelt, sondern sie sich explizit und direkt gegen Personen bzw. Personengruppen richtet, die Betroffengruppen rechter Gewalt zuzuordnen sind.

Bei allen Formen der Körperverletzung und von Tötungsdelikten gilt auch der Versuch. So wird beispielsweise ein Flaschenwurf auf eine Person als gefährliche Körperverletzung in der Statistik erfasst, auch wenn die Flasche ihr Ziel verfehlt.

Folgende Delikte fallen nicht unter die Gewaltdefinition der Polizei, werden aber unter den unten beschriebenen Umständen im Monitoring der Opferperspektive erfasst:

Sachbeschädigungen (§ 303) – werden nur in vehementen oder massiven Fällen erfasst. Massive Fälle bezeichnen Fälle, in denen der entstandene Sachschaden zur Unbrauchbarkeit oder Zerstörung eines (Bspsw. Wohn- oder Gewerbe-) Objekts führt und somit den Folgen einer Brandstiftung gleichkommt, oder Vorfälle, bei denen in den persönlichen Nahraum einer Person eingedrungen wird, so dass die körperliche Unversehrtheit dieser Person gefährdet ist

Vehemente Sachbeschädigungen werden als ein Gewaltdelikt gezählt, wenn sie in einer Häufigkeit gegen dieselbe Person/ dasselbe Projekt verübt werden, die massive Tatfolgen mit sich bringen, bspw. Die Kündigung des Mietvertrages oder des Versicherungsschutzes, oder den Umzug der betroffenen Person.

Bedrohungen/ Nötigungen, wenn die Kriterien nach §240 bzw. §241 StGB erfüllt sind, oder Aggressionen und Anfeindungen durch Betroffene als Bedrohung wahrgenommen werden und dies mit erheblichen Folgen für die Betroffenen verknüpft ist. Erhebliche Folgen sind hier entweder gesundheitliche Folgen (Angststörungen, PTBS, Panikattacken o.ä.), finanzielle Folgen (Aufgabe/Verlust der Existenz bzw. des Arbeitsplatzes, Umzug o.ä.), oder eine substantielle Einschränkung des eigenen Bewegungsfreiraums (Wegzug, Einstellen sozialer Kontakte, kompletter Rückzug aus dem öffentlichen Raum)

Wie bewertet die Opferperspektive einzelne Gewalttaten?

Ob Gewalttaten als rechtsmotiviert in der Statistik erfasst werden, hängt an einer Bewertung der „Umstände der Tat“ und der „Einstellung des Täters“. Hierbei ist für die Opferperspektive die Wahrnehmung der Betroffenen zentral. Das heißt: Hat die angegriffene Person die Tat als „rechts“ wahrgenommen? Gibt es aus ihrem Erfahrungswissen heraus Umstände, die für sie den Angriff ausschließlich durch eine rechte Tatmotivation erklärbar werden lässt? Schildert sie einen Kontext, in dem die Tat stattgefunden hat, ist sie bspw. aus derselben Tätergruppe bereits im Vorfeld einschlägig beschimpft worden? Oder ist sie in ihrem Umfeld bereits im Alltag ständigen rechten Anfeindungen ausgesetzt, aus denen sich eine Verbindung zur Tat herleiten lässt?

Rückschlüsse über die Tatmotivation bzw. die Einstellung des Täters lassen sich bspsw. aus folgenden Kriterien ziehen:
Äußerungen des oder der Täter vor, während oder nach der Tat, insbesondere ( rassistische, antisemitische, oder LGBTIQ*-feindliche usw.) Beleidigungen
Kleidung oder Symbole, die der oder die Täter tragen (rechte Szenemarken, Symbole und Codes)
Organisierung der Täter oder des Täters in rechten Gruppierungen, Organisationen oder Parteien

Umstände der Tat, die Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv geben, können z.B. sein:

Bestimmte Daten oder Orte & Ereignisse ( einschlägige Daten wie der 20. April, Männertag, oder Orte wie Volksfeste, linke Wohnprojekte und Ereignisse wie einschlägige Demonstrationen)
Die „Opferauswahl“ – richtet sich die Tat gegen Personen oder Personengruppen, die als Betroffenengruppen rechtsmotivierter Gewalt gelten? Ist die Gewalttat aus Ungleichheitsvorstellungen heraus begangen worden und richtet sich nicht gegen das angegriffene Individuum als solches, sondern stellvertretend gegen eine Gruppe (Botschaftstaten) ?
Die Art der Tatbegehung ( Gewaltexzesse, besondere Brutalität oder Demütigung, Folter)

Worin sind die Unterschiede in der Erfassung der Polizei und der Opferperspektive begründet?

Die Kriterien des BKA und der Opferperspektive gleichen sich. Uns als Beratungsstelle ist es wichtig, Zahlen zu erheben, die mit denen staatlicher Behörden vergleichbar sind. Unterschiede gibt es vor allem an folgenden Stellen:

Die Opferperspektive erfasst Bedrohungen/ Nötigungen und massive Sachbeschädigungen als Gewaltstraftaten, das BKA und somit auch das LKA Brandenburg nicht.
Der Opferperspektive werden Gewalttaten bekannt, die nicht angezeigt und dadurch nicht durch die Polizei erfasst werden.
Die Polizei erfasst unter Gewaltstraftaten Widerstandsdelikte gegen Polizeibeamt:innen, sowie weitere Straftatbestände wie gefährliche Eingriffe in den Straßen- Bahn- und Schifffahrtsverkehr und Landfriedensbruch, auch wenn sich diese Straftaten nicht direkt gegen Personen oder Personengruppen richten. Die Opferperspektive erfasst diese Straftaten nicht.
Die Opferperspektive und das LKA kommen zu unterschiedlichen Bewertungen zur Tatmotivation bei einer Gewalttat. Das LKA verlangt, dass das rechte Tatmotiv „tatauslösend“ und „tatbestimmend“ sein muss, um eine Straftat als PMK-rechts zu werten. Da Straftaten oft aus einem Motivbündel heraus begangen werden, wertet die Opferperspektive auch Gewalttaten als rechtsmotiviert, bei denen das rechte Tatmotiv „eskalierend“ oder „tatbegleitend“ eine Rolle spielt – wie z.B. bei einer Körperverletzung im Kontext eines rassistisch aufgeladenen Nachbarschaftskonfliktes. Erschwerend kommt hinzu, dass die PMK-rechts Statistik des LKA eine Eingangsstatistik ist. Das heißt, dass bereits am Anfang der Ermittlungen eine Bewertung der Tatmotivation durch die Polizei erfolgt. Spätere Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv führen nur selten zu einer Aufnahme in der Statistik der Polizei.
Die Opferperspektive und das LKA kommen zu unterschiedlichen Bewertungen des Straftatbestandes, der einem rechtsmotivierten Vorfall zu Grunde liegt. So bewertet die Opferperspektive bspw. Einen Molotow-Angriff auf ein Gebäude als Brandstiftung, das LKA lediglich als gemeinschädliche Sachbeschädigung (kein Gewaltdelikt)