Die Hoffnung wird schwächer

Er schweigt und greift nach einer Gabel. Auf dem Tisch steht eine große Portion Nudelauflauf. Langsam beginnt Orazio Giamblanco zu essen. Seine Lebensgefährtin sitzt daneben, sie will ihn am Gespräch mit der Tochter und den Gästen beteiligen. Giamblanco sagt nichts. Er reagiert erst, als über Pläne für 2006 gesprochen wird. »Vielleicht nach Sizilien«, die Stimme hat wenig Kraft. »Aber, meine Beine, ganz schwer«. Hinter seinem Stuhl steht ein Gehgestell mit vier kleinen Rollen. Wie ein stummes Symbol für die verlorene Hoffnung, doch noch ohne Hilfe gehen zu können.

Seit neun Jahren ist das Leben des Sizilianers ruiniert. Am 30. September 1996 überfielen der Skinhead Jan W. und ein Kumpan in Trebbin drei italienische Bauarbeiter. Einer war Orazio Giamblanco. Jan W. drosch ihm eine Baseballkeule gegen den Kopf. Dass Giamblanco überlebt hat, ist ein Wunder. In zwei Notoperationen retteten ihn die Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde. Doch weder sie noch die vielen Mediziner und Therapeuten, die Giamblanco seitdem behandelt haben, hätten ihm wieder zu einem normalen Leben verhelfen können – ohne spastische Lähmungen, Sprachstörungen, Depressionen, Kopfschmerzen, häufige Bronchitis. Jahr für Jahr, seit 1997, besucht der Tagesspiegel den in Bielefeld lebenden Italiener, um über sein Befinden zu berichten. Als ein Beispiel für die Folgen rechtsextremer Gewalt.

In den vergangenen Jahren waren bei Giamblanco kleine Fortschritte zu erkennen. 1999 schaffte er es, einige Meter an Krücken zu gehen. Im Dezember 2000 konnte er sich erstmals wieder wenige Schritte alleine bewegen. 2003 gelang es ihm, die Zehen an dem linken, teilweise tauben Fuß zu bewegen. Doch jetzt geht nicht mehr viel. Giamblanco ist 64, der altersbedingte Verschleiß schwächt zunehmend den Kampf gegen die Behinderung. So wächst die Resignation und raubt auch noch Kraft. Die Keule trifft Giamblanco mit jedem Jahr härter.

Im Gymnastikraum des Klinikums Bielefeld. Hier übt Giamblanco mehrmals die Woche das Hinsetzen, das Aufstehen, das Gehen mit oder ohne Krücken. Der Physiotherapeut Karsten Tiekötter kommt, ein freundlicher Mann Ende 30, er kümmert sich seit über drei Jahren um Giamblanco. »Wir setzen uns erstmal hin«, sagt Tiekötter, doch sein Patient hat an diesem Tag schon damit Probleme. Giamblanco stolpert, als er sich an Krücken zur Liegebank bewegt. Der Therapeut greift sofort zu und verhindert einen Sturz. »Heute nicht gut«, murmelt Giamblanco. Doch Tiekötter ist beharrlich, die Übungen müssen sein. Als Giamblanco sich auf der Bank ausgestreckt hat, hebt der Therapeut das rechte Bein an, dann das linke, das meistens schnell versteift. Tiekötter drückt mit einem Arm auf das hochragende linke Knie, dann auf den Oberschenkel. Giamblanco ächzt. »Selber anwinkeln kann er nicht«, sagt Tiekötter, »aber er kann das Knie hoch halten«.

Jetzt können sie mehr wagen. Tiekötter hilft Giamblanco auf und reicht die Krücken. Giamblanco soll gehen. Mühsam hebt er das linke Bein, dann zieht er das rechte nach. Tiekötter wartet, beobachtet, überlegt. »Sollen wir es ohne Krücken versuchen?« Giamblanco nickt. Der Therapeut stellt sich vor seinen Patienten, die beiden Nasenspitzen berühren sich fast. Jetzt hat Giamblanco Mut. Würde er fallen, dann in die Arme Tiekötters. Ein Schritt, noch einer, ein dritter. Giamblanco schwankt zentimeterweise voran, er stöhnt. Der Therapeut greift ein, hält ihn fest und reicht die Krücken.

Giamblanco hadert leise mit sich selbst, »kann nicht verstehen, warum mit den Beinen so schwer zu laufen«. Tiekötter sinniert, »es fehlt ihm die Perspektive, dass sich die Situation bessert«. Der Therapeut spürt, dass sein Patient resigniert und sich einkapselt, »er sagt nicht mehr, wenn ihm was weh tut«. Dennoch will Tiekötter mit Giamblanco weiterarbeiten. »Wenn ich das nicht mache«, er atmet durch, »fällt er in ein tiefes Loch«.

Mittagessen nach der Gymnastik. Während Giamblanco stumm den Nudelauflauf isst, erzählen seine griechische Lebensgefährtin Angelica Berdes und ihre Tochter Efthimia, wie es ihnen geht. »Meine Probleme werden immer mehr«, sagt Angelica Berdes, »vor allem der Bluthochdruck«. Die zierliche Frau, 54 Jahre alt, hatte nach dem »Unfall«, wie sie es nennt, ihren Job aufgegeben. Lebensinhalt ist die Pflege Giamblancos. Berdes nimmt täglich Beruhigungsmittel und geht regelmäßig zum Psychiater, »das hilft mir, ich kann reden.« Auch ihre Tochter Efthimia, 31 Jahre alt, hat in den neun Jahren einen hohen Preis gezahlt. Nach dem Angriff auf Giamblanco verlor sie ihre Lehrstelle in einem Friseursalon. Der Chef akzeptierte nicht, dass Efthimia Berdes einige Auszeiten brauchte, um ihrer anfangs völlig überforderten Mutter bei der Pflege des behinderten Mannes zu helfen. Erst 2000 nahm Efthimia Berdes wieder einen Job an. Sie ist jetzt Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik. Vor einer neuen Lehre scheut Berdes zurück, »dann reicht es nicht finanziell«. Sie lebt in einer teuren Mietwohnung gegenüber ihrer Mutter und Giamblanco, um ihnen so oft es geht beizustehen. »Meinem letzten Freund hat das nicht gepasst«, sagt Berdes. »Das ist schon die zweite Beziehung in drei Jahren, die deshalb kaputt gegangen ist.«

Der Mann, der vor neun Jahren zugeschlagen hat, ist inzwischen auf freiem Fuß. Das Landgericht Potsdam hatte Jan W. 1997 wegen versuchten Mordes an Orazio Giamblanco zu 15 Jahren Haft verurteilt. Da W. sich im Gefängnis von der rechten Szene löste und seine Tat glaubhaft bereute, konnte er in den offenen Vollzug wechseln und kam dann auf Bewährung frei. In einem kurzen Telefonat sagte er Anfang Dezember dem Tagesspiegel, er habe den lang geplanten Brief an Giamblanco fertig. Dennoch ist das Schreiben nicht angekommen. Die Gründe sind von Jan W., der offenbar weiter mit sich ringt, nicht zu erfahren.

Gespräche mit Giamblanco über den Täter sind heikel. »Wenn er sich entschuldigt«, Giamblanco hebt ein wenig die Stimme, »was kann ich für eine Antwort geben? Für mich ändert sich nichts«. Angelica Berdes widerspricht, »mich interessiert es, ob er bereut«.

Für etwas Ablenkung von den täglichen Qualen haben Leser des Tagesspiegels gesorgt. Ein Berliner Ehepaar bezahlte Giamblanco und den beiden Frauen in diesem Jahr zwei Wochen auf Teneriffa. Dort lebt der jüngste Bruder Giamblancos. Und von den weiteren Spenden, die nach der Reportage aus dem vergangenen Jahr eingingen, konnten sich die drei im Sommer einen Kurztrip nach Teneriffa gönnen. Doch auf die Frage, wohin Giamblanco 2006 möchte, bleibt das Fernweh aus. Nur knapp spricht er von der Heimat Sizilien. Dann sagt er, was ihm wichtiger wäre als eine Reise: »Ein Trainer«. Pause. »Der mit mir Gehen übt. Draußen, am Stock.«

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