Einmal noch nach Sizilien

TREBBIN/BIELEFELD Das ist zu steil, der Berg zum Friedhof hoch. Das kann Orazio nicht schaffen. Mario Giamblanco hebt ruckartig den linken Arm und blickt in die Runde. Wenn ihr nach Sizilien wollt, müsst ihr ans Meer fahren, nach Syrakus, da ist es flach. Marios Bruder Orazio starrt auf den Tisch. Sizilien macht mir Angst, sagt Orazios Lebensgefährtin Angelica Berdes, der Mann im Reisebüro meint auch: besser nicht. Da sind Berge, das ist schwer mit dem Rollstuhl. Orazio Giamblanco sagt nichts. Auf dem Friedhof von Agine in der Provinz Enna ist seine Mutter begraben. Dort will er hin, einmal noch in seinem Leben. Mit Rollstuhl oder Krücken, egal. Angelica und Mario blicken sich an. Sie kennen Orazio, er ist stur. Wenn er nicht spricht, erst recht.

Ein gutes Zeichen. Fünf Jahre nach dem Überfall eines Skinheads verbeißt sich der kleine, untersetzte Sizilianer in Pläne. Fünf Jahre, nachdem am Abend des 30. September 1996 der Rechtsextremist in Trebbin mit seiner Baseballkeule ausholte. Der Schlag traf Giamblanco mit voller Wucht am Kopf. Das Leben des erst kurz zuvor angereisten Hilfsbauarbeiters wurde in Notoperationen gerettet. Dann lag Orazio Giamblanco monatelang in Rehabilitationskliniken nahe Bielefeld, wo er seit 1986 wohnt. Arme und Beine waren weitgehend gelähmt, sprechen konnte er kaum, er hatte Kopfschmerzen, Albträume, Depressionen. Den Schläger verurteilte das Landgericht Potsdam 1997 zu 15 Jahren Haft, wegen versuchten Mordes.

1997 waren bei Orazio Giamblanco kaum Fortschritte zu erkennen. 1998 jedoch schlurfte er mit dem Gehgestell auf Rollen durch den Hausflur vor der alten, mit orthopädischem Bett und Stahlgriffen aufgerüsteten Wohnung. 1999 ging Giamblanco an zwei Krücken. Im letzten Jahr konnte er bei der Krankengymnastik zwei Meter vorwärts schwanken, freihändig. Vor wenigen Wochen hat Giamblanco die Gymnastik unterbrochen. Er ist therapiemüde, sagt Therapeut Tino Czerlinski, das ist normal. Orazio komme bald wieder.

Die Pause scheint Giamblanco kaum zu schaden. Er steht jetzt sogar ohne fremde Hilfe vom Tisch auf. Das dauert mehrere Minuten, der Kopf läuft rot an. Dann muss das Gehgestell mit den kleinen Rollen her. Geht besser, nuschelt Orazio Giamblanco. Er verzieht den Mund zu einem Lächeln. Ein Lächeln – das war in den letzten Jahren selten. Nun kommt es, zwei-, dreimal in der Stunde. Es löst die Maske auf, zu der Schmerz und Trauma das Gesicht verhärtet haben.

Giamblanco verspürt Auftrieb, weil sich im Herbst wenigstens der zweite große Wunsch neben der Reise nach Sizilien erfüllt hat. Ende Oktober ist der 60-Jährige mit seiner zehn Jahre jüngeren griechischen Freundin in Bielefeld umgezogen. Giamblanco hat nach einem Antrag seines Anwalts aus dem 10-Millionen-Fonds, den der Bundestag in diesem Jahr zur Entschädigung von Opfern rechter Gewalt initiiert hat, 300.000 Mark bekommen und eine Neubauwohnung gekauft. Die ist geräumig, hell, ebenerdig, vor der Haustür neigt sich eine Rollstuhlrampe zum Bürgersteig. Angelica Berdes ruft, als verkünde sie einen Lottogewinn: 84 Quadratmeter! Das ist ein Drittel mehr als in der alten Behausung, wo Gehgestell und Krücken an jede Ecke stießen.

Den Umzug hat Giamblanco durchgesetzt, gegen die Bedenken von Angelica Berdes und ihrer Tochter Efthimia. Immerhin war mit dem Kauf der Wohnung das Geld aus dem Opferfonds weg. Und die 27-jährige Efthimia zog in die teure Nachbarwohnung ein, um ihrer zierlichen Mutter bei der Pflege des schwerbehinderten Mannes beistehen zu können. Für ihn opfert Efthimia Berdes die karge Freizeit, die ihr der Job im Drei-Schichten-System in einer Schokoladenfabrik lässt. Und vom Gehalt bleibt nach Abzug von Miete und Alltagskosten nichts übrig. Eine Alternative sieht Efthimia Berdes nicht. Letztens, sagt sie, ist Orazio umgefallen. Meine Mutter hat zwei Stunden gebraucht, um ihn zum Bett zu ziehen, damit er sich aufstützen konnte. Ich war auf Arbeit, aber ich habe meiner Mutter gesagt: Wenn das wieder passiert, rufst du über Handy an und ich komme. Mein Chef versteht das.

Der rechte Schläger hat mit seiner Baseballkeule auch die Frauen hart getroffen. Angelica Berdes gab ihren Fabrikjob auf, die Tochter brach die Lehre in einem Friseursalon ab, ein halbes Jahr vor der Prüfung. Der damalige Chef hatte kein Verständnis. Der hat immer gesagt, ich darf nicht fehlen, sagt Efthimia, was kümmerst du dich überhaupt um den Italiener, der ist doch gar nicht dein Vater. Mobbing im Job plus Pflege eines Schwerbehinderten – das war zu viel. Nach dem Abbruch der Lehre hat Efthimia Berdes etwa drei Jahre nicht gearbeitet. Bis sie es nicht mehr aushielt, mit Mitte zwanzig keine andere Perspektive zu haben als die häusliche Pflege von Orazio. So nahm Efthimia Berdes die Stelle in der Schokoladenfabrik an. Aber bald, hofft sie, macht meine Cousine ihren Meister als Friseurin. Dann richtet die sich ‘nen eigenen Salon ein und ich mach’ da meine Lehre zu Ende.

Angelica Berdes ist erleichtert und beschwert zugleich. Es ist gut, dass Efi Arbeit hat, sagt sie, früher hat Efi oft geweint. Aber jetzt fehlt die Tochter bei der Pflege von Orazio, doch darüber beklagt sich Angelica Berdes nicht. Sie sagt nur: Ich habe Rückenschmerzen. Ich bin dreimal im Monat beim Psychiater, der verschreibt Beruhigungstabletten. Der Psychiater hat gesagt, ich muss in eine Nervenklinik. Aber das geht nicht.

Es gibt jedoch einen Punkt, da schlägt die Geduld um in Wut. Wenn Angelica Berdes über das Gezerre mit Pflegeinstitutionen spricht, wird sie laut. Ich bin zur AOK und habe gesagt: Ich brauche neue Krücken für Orazio. Die alten sind verbogen, vom Hinfallen. Eine Frau hat gebrauchte Krücken geholt. Ich habe geschimpft, Orazio braucht stabile neue Krücken, soll er wieder hinfallen? Dann kam eine nette Frau, die hat gesagt, ich kenne Sie, ich bringe neue Krücken.

Der Kampf um ein neues Paar orthopädische Stiefel war ähnlich aufreibend. Angelica Berdes versteht auch nicht, warum sie die orthopädischen Griffe aus der alten Wohnung nicht in die neue mitnehmen konnten. Außerdem wartet Giamblanco seit drei Monaten auf einen elektrischen Rollstuhl.

Im September hat Dr. Giacinto Saccomanno, der auch aus Italien stammende Hausarzt, einen »Elektrorollstuhl« verschrieben. Angelica Berdes brachte die Überweisung zur AOK. In der »Regionaldirektion Westfalen-Lippe« war Sachbearbeiterin J. zuständig. Sie übermittelte Giamblanco und Saccomanno Fragebögen. Kann ein Fahrzeug mit Handhebelbetrieb benutzt werden?, lautete eine Frage. Die Antwort schien klar: ja. Das war falsch. Ende Oktober schrieb J. an Giamblanco, da er ein Fahrzeug mit Handhebelbetrieb benutzen könne, kommt ein Elektrokrankenfahrzeug nicht in Betracht.

Giamblanco und sein Arzt hätten den Handhebel mit dem »Joystick« verwechselt, sagt J., wo man mit der Hand den elektrischen Hebel bedienen kann. Doch die Sachbearbeiterin gibt zu, dass auch sie sich geirrt hat: Ich war gar nicht zuständig. Bei Gewaltopfern muss das Versorgungsamt entscheiden. Ich hab’ dann die Unterlagen ans Versorgungsamt Bielefeld geschickt.

Dort kamen sie am 26. November an. Eigentlich könnte alles ganz schnell gehen, sagt der Sachbearbeiter, der seinen Namen nicht nennen möchte. Alleine entscheiden kann er aber nicht. Auch seine Behörde nicht. Der Bearbeiter sagt: Wir brauchen die Genehmigung vom Versorgungsamt Cottbus. Giamblanco wurde in Brandenburg zusammengeschlagen, also ist dort eine Behörde zuständig. Mit ihr hat Giamblanco zwiespältige Erfahrungen gemacht – im letzten Jahr weigerte sich das Versorgungsamt Cottbus, gemeinsam mit der Krankenkasse, eine Spezialtherapie in Hamburg zu bezahlen. Der Italiener und die beiden Frauen Berdes erfuhren davon, als sie in der Privatklinik angekommen waren. Keine Chance. Diesmal reagiert das Versorgungsamt Cottbus anders: Der Elektrorollstuhl sei genehmigt, heißt es gestern. Giamblanco muss sich nun das passende Modell aussuchen. Dazu ist eine Fahrt von Bielefeld ins benachbarte Vlotho nötig, im Moment aber unmöglich – der Italiener ist letztes Wochenende wieder gestürzt und liegt mit Schmerzen im Bett.

Angelica Berdes signalisiert beim Besuch des Tagesspiegels, vor dem Sturz: Lieber nicht so viel über das Stressthema Rollstuhl sprechen. Und zum Überfall vor fünf Jahren nur eine Frage. Orazio Giamblanco stöhnt. Hat mich kaputt gemacht, warum? Ich kannte ihn nicht. Angelica Berdes sagt, am Jahrestag habe Orazio geweint. Schweigen.

Der Sizilianer blickt an die Wand. Über dem Esstisch hängt ein Ölgemälde, bunte Fischerboote auf blauem Wasser vor weißen Hafenhäuschen. Sehnsucht nach Sizilien. Giamblanco weiß, was Hausarzt Saccomanno gesagt hat. Dass die Lebenserwartung nach dem Schlag gegen den Kopf gesunken ist. Grund genug, stur auf eine Reise hin zu arbeiten. Giamblanco hebt die rechte Hand. Früher, sagt er leise, wollte Wohnung kaufen auf Sizilien. Aber jetzt hier in neuer Wohnung, ist schön. Giamblanco blickt an die Wand mit dem Bild. Er wird nach Sizilien fahren. Als habe er es gerade laut verkündet und wollte den Hall nachahmen, nickt Orazio Giamblanco ein paar Mal mit dem Kopf.

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