BIELEFELD In einem langen, hellen Raum mit drei großen Fenstern steht eine hydraulische Liege. Ein älterer, vornüber gebeugter Mann schlurft herein, gestützt auf zwei Krücken. Nach etwa zwei Minuten erreicht er die Liege und dreht ihr langsam den Rücken zu. Als der Patient sich hinsetzen will, verlässt ihn die Kraft. Abrupt sackt er auf die dünne Unterlage, die mit einem blauen Stretch-Tuch bezogen ist. Ein junger, bärtiger Therapeut erscheint, grüßt freundlich und zieht dem Patienten die schweren orthopädischen Schuhe aus. Der behinderte Mann legt sich flach hin, der Mediziner tritt auf ein Pedal. Die Liege steigt hoch, das linke Bein des Patienten kommt in Griffweite. Erst knetet der Therapeut den linken Fuß, dann drückt er mit der rechten Hand die Kniekehle hoch. Die linke Hand presst den Unterschenkel nach innen. Nun ragt das halb zusammengeklappte Bein wie eine Bergspitze empor. Der Patient stöhnt leise. Nach zehn Sekunden lässt der Therapeut das Bein auf die blaue Liegefläche sinken. Die härteren Übungen können beginnen.
Orazio Giamblanco weiß, was nun kommt. Seit zwei Jahren betreut ihn Tino Czerlinski. An fünf Tagen in der Woche fährt das Rote Kreuz den Italiener Giamblanco und seine Lebensgefährtin von der Wohnung im Zentrum Bielefelds zur Krankengymnastik im Ortsteil Brake. Dort steht dem fast 60-jährigen Mann jedes Mal eine anstrengende, Schweiß treibende Stunde bevor. Aber die Qual bedeutet auch Hoffnung: Vier Jahre, nachdem ihm ein Neonazi in Trebbin (südlich von Berlin) eine Baseballkeule gegen den Kopf geschlagen hat, hat sich Giamblanco wieder ein wenig Leben erkämpft. Tino Czerlinski lobt seinen Patienten – und wundert sich: »Wenn ich mir die Schwere der zentralen Schädigung ansehe, muss ich sagen: Orazio hat eine Entwicklung gemacht, die nicht zu erwarten war.«
Am Abend des 30. September 1996 schlug in Trebbin der Skinhead Jan W. zu. Aus purem Hass auf Ausländer. Der Neonazi kannte den Hilfsbauarbeiter nicht, aber irgendein Nicht-Deutscher musste in dieser Nacht geprügelt werden. Giamblanco überlebte nur knapp, mehrere Notoperationen waren nötig. Den rechten Schläger verurteilte das Landgericht Potsdam 1997 wegen versuchten Mordes zu 15 Jahren Haft.
Im Frühjahr 1997 hat der Tagesspiegel Orazio Giamblanco das erste Mal besucht. Damals saß er apathisch im Rollstuhl, in einer Reha-Klinik im niedersächsischen Coppenbrügge. Ein halbes Jahr später lag er stumm in einem Krankenhaus in Bad Oeynhausen – ohne Hoffnung, gequält von Depressionen. Die Diagnosen der Ärzte klangen düster. Doch 1998 war ein Fortschritt zu erkennen: Giamblanco kämpfte sich mit einem rollenden Gehgestell durch seine Übungsstrecke, den acht Meter langen Hausflur – in zehn Minuten. 1999 kam er schon auf Krücken einige Meter voran. Doch jeder Versuch, frei zu gehen, misslang. Kommt Orazio Giamblanco in diesem Jahr etwas besser zurecht?
Nachdem er das Anwinkeln des linken und dann auch des rechten Beines hinter sich hat, wird der Italiener von dem Physiotherapeuten in eine Sitzstellung gehievt. Dann beugt Giamblanco den Oberkörper, so weit es geht, zum rechten Bein. Giamblanco stöhnt lauter, Czerlinski feuert ihn an: »Okay, komm, komm«. Giamblanco atmet schwer, der Abstand zwischen Brust und Bein schrumpft auf eine halbe Armlänge. Tiefer geht es nicht, obwohl Giamblanco will. Der Kopf wird röter, das Stöhnen stärker – Czerlinski hilft dem Patienten, sich wieder aufzurichten. Nun ist die linke Seite an der Reihe. Hier hat Giamblanco noch mehr Probleme. Der Therapeut drückt dem schwitzenden Mann auf den Rücken, doch so weit hinunter wie auf der rechten Seite geht es nicht. Ausruhen. Giamblanco presst »ah jaa« hervor. »Er muss lernen, mit seiner Spastizität umzugehen«, sagt Czerlinski. Und bereitet die schwierigste Übung vor: Orazio Giamblanco wird ein paar Schritte gehen. Alleine. Ohne Krücken, ohne Hilfe.
Über und unter Giamblancos linkem Kniegelenk befestigt der Therapeut eine lange Fixierungsschiene. Ohne sie hätte das Bein zu wenig Kraft und würde wegknicken. »Gut, auf geht’s«, sagt Czerlinski. Giamblanco steht vor der Liege, den Körper weit nach vorne gebeugt. Er wartet, konzentriert sich. Der linke Arm ist halbhoch angewinkelt, die Hand wackelt. Giamblanco beginnt zu schwanken, »komm hoch, komm hoch!« ruft Czerlinski. Der Italiener hebt seinen Oberkörper – und ruckt das linke Bein ein paar Zentimeter vor. Innehalten. Der rechte Fuß zieht nach. Aber auch der Oberkörper neigt sich. Czerlinski beschwört Giamblanco, »komm hoch, konzentrier dich.« Der Italiener schafft es. Er fällt nicht um. Wortlos bewältigt er die zwei Meter von der Liege zur Tür. Reden darf er nicht – die Konzentration wäre zu sehr beeinträchtigt. Nach zehn Minuten hat Giamblanco die Tür passiert. Ein kleines Wunder. Aber mehr geht nicht. Czerlinski reicht die Krücken. Angelica Berdes, die Lebensgefährtin, atmet durch.
Die Wohnung ist ein tückischer Ort
Nach einer kurzen Pause schafft der Italiener mit den Krücken die zwanzig Meter bis zum Kraftraum. Dort tritt Giamblanco auf einem »Cardio Bike« in die Pedale. Mühsam, aber regelmäßig. Auf einer elektronischen Anzeigetafel an dem »Fahrrad-Ergometer« blinken rote Dioden auf. »Er bewältigt 25 Watt«, sagt Czerlinski, »normales Spazierengehen ist 30 bis 40 Watt.« Wird das für Giamblanco jemals wieder möglich sein? Czerlinski zögert. »Man kann bei so einem Krankheitsbild nicht von Monaten sprechen, nur von Jahren«, sagt der Physiotherapeut. Denkbar wäre, dass sich Giamblanco irgendwann zu Hause ein wenig ohne Krücken bewegen kann. Aber Czerlinski weiß auch, dass selbst die enge, mit Hilfsapparaturen vollgestopfte Wohnung ein tückischer Ort sein kann. Erst letzten Sonntag ist Giamblanco umgefallen. Weil seine Beine die Balance kaum halten können, der Oberkörper immer nach vorne schwankt und auch die Arme nicht koordiniert reagieren, ist jeder Sturz doppelt gefährlich: Giamblanco fällt meistens auf das Gesicht. Von Sonntag ist noch eine Schwellung an der Oberlippe übrig.
Das Sprechen fällt Giamblanco weiterhin schwer. »Muss gehen, muss«, nuschelt er bei der Krankengymnastik. Die Mundwinkel verziehen sich zu einem kurzen Lächeln, »ich will bisschen laufen, mit Stock, egal«. Mehr ist nicht zu verstehen. »Aber er kann etwas besser reden«, sagt später Giamblancos Hausarzt Giacinto Saccomano. Wichtiger sei noch, dass die Lähmung von Armen und Beinen um zehn Prozent nachgelassen hat. Doch Saccomano wiederholt frühere Prognosen: Maximal 50 Prozent der früheren Leistungsfähigkeit seien erreichbar. Dass Giamblanco diesem Ziel näher gekommen ist, erklären der Arzt wie auch Physiotherapeut Czerlinski mit der permanenten Hilfe von Angelica Berdes. Die Lebensgefährtin und ihre Tochter haben das zweite kleine Wunder bewirkt: »Giamblanco hat deutlich weniger Depressionen als früher«, sagt Saccomano, »dank der guten Pflege zu Hause«. Aber wie lange wird Angelica Berdes den Kräfte zehrenden Einsatz durchhalten?
Die zierliche, 49 Jahre alte Griechin fasst sich an die Schultern, »ich habe Probleme mit dem Rücken, alles tut weh«. Wenn Giamblanco hinfällt, kann sie den 80 Kilogramm schweren Mann nicht aufheben und muss einen Krankenwagen rufen. Auch die seelische Belastung ist kaum zu ertragen. Berdes nimmt Beruhigungsmittel, dreimal im Monat geht sie zum Psychiater. Dagegen hat sich ihre Tochter Efthimia Anfang dieses Jahres ein wenig vom deprimierenden Alltag befreit. Mit schlechtem Gewissen.
1996 gab sie wie die Mutter ihren Job auf, um Orazio Giamblanco pflegen zu können. »Aber Efi hat zum Schluss immer in ihrem Zimmer gesessen und geweint«, sagt Angelica Berdes, »sie hatte kein eigenes Geld und wollte doch was werden«. Dann haben Mutter und Tochter gemeinsam eine Stelle gesucht. Im Januar ist die 26-Jährige bei einer Firma für Zeitarbeit untergekommen, Paletten packen in einer Schokoladenfabrik. Doch sie wohnt weiter zu Hause, um der Mutter bei Giamblancos Betreuung zu helfen. Vor allem in kritischen Situationen.
Die Wohnung ist ein tückischer Or
»Im Sommer ist Orazio gestürzt«, sagt Efthimia Berdes, »zum Glück war meine Mutter nicht alleine. Orazios Brille war zerbrochen und er hatte Splitter in den Augenbrauen.« Manchmal ist Angelica Berdes jedoch auf sich gestellt. Wie Ende September, als Giamblancos linkes Bein nach einem Besuch bei Verwandten wieder versteifte. »Wir bekamen ihn nicht in ein Auto rein«, sagt Berdes, »sein Bein war wie Holz«. Die Griechin hat ihren Lebensgefährten dann im Rollstuhl nach Hause geschoben. Zwei Kilometer durch das hügelige Bielefeld.
Wie könnte die Zukunft aussehen? »Ich möchte nach Sizilien«, sagt Orazio Giamblanco und lächelt, »ah jaa«. Angelica Berdes ist skeptisch, »da hast du keine Gymnastik wie hier«. Andererseits ist die Hoffnung, in der Bundesrepublik sei noch am ehesten eine weitgehende Heilung zu erwarten, erst kürzlich enttäuscht worden. Hausarzt Saccomano hatte Giamblanco an eine orthopädische Klinik in Hamburg überwiesen. Hier sollen neue therapeutische Methoden entwickelt worden sein. Mitte November fuhren Berdes und Giamblanco hin. »Der Professor fragte als Erstes, ob Orazio privat versichert ist«, sagt Berdes. Doch Giamblanco wird von der AOK betreut, zuständig ist aber vor allem das »Amt für Soziales und Versorgung« in Cottbus – weil Giamblanco seine Verletzungen in Brandenburg erlitt. Der Professor der Hamburger Klinik habe in Cottbus angerufen und dann gesagt, das Versorgungsamt zahle die Behandlung nicht, erinnert sich Berdes. »Orazio hat sich sehr geärgert, und wir sind zurückgefahren.«
Die Wohnung ist ein tückischer Or
Nachfrage beim Amt für Soziales und Versorgung: Stimmt die Geschichte so, wie sie Berdes und Giamblanco erzählen? Eine Sachbearbeiterin sagt am Telefon, sie könne keine Aussage machen, »ich muss mir erst die Akte ziehen und mit der Dezernentin Rücksprache halten«. Nach drei Stunden wird das Ergebnis mitgeteilt: »Bitte wenden Sie sich an die Pressestelle der übergeordneten Landesbehörde.« Das Cottbuser Amt sei zwar für Orazio Giamblanco zuständig, dürfe aber keine Auskünfte geben. Anruf beim »Landesamt für Soziales und Versorgung«, ebenfalls in Cottbus angesiedelt. Die Pressestelle, bitte. Antwort der Telefonzentrale: Die Kollegin sei nicht zu sprechen. »Sie ist bis zum 20. Dezember in Urlaub.«
Obwohl sie seit mehreren Jahrzehnten in der Bundesrepublik leben, verstehen Giamblanco und Berdes dieses Land oft nicht. Warum reagieren Behörden kalt und abweisend? Warum schlug ein wildfremder Skinhead zu? »Ich habe den nie gekannt«, Giamblanco versucht, seine Stimme zu heben, »ich hatte in Brandenburg keine Probleme, keinen Ärger«. Efthimia Berdes schaltet sich ein und deutet an: besser kein Gespräch über den »Unfall« in Trebbin. Doch Giamblanco will noch was zur rechten Gewalt sagen. »Habe im Fernsehen gesehen, dass ein Skinhead jemanden geschlagen hat.« Gemeint ist ein Vorfall vom August – im bislang so friedlichen Bielefeld prügelte ein Kahlkopf auf einen 13 Jahre alten, dunkelhäutigen Jugendlichen ein. Angelica Berdes unterbricht Giamblanco, »ich habe immer Angst und sage, besser die Tür zumachen«. Da schüttelt der Italiener langsam den Kopf. »Wenn es passieren soll, passiert es.«
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