Zurück in den aufrechten Stand: Der Kampf des Orazio Giamblanco – 26 Jahre nach einem Nazi-Angriff


Foto: Frank Jansen

Der italienische Bauarbeiter Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Skinhead in Brandenburg beinahe erschlagen. In einer Langzeitreportage berichtet der Journalist Frank Jansen für den Tagesspiegel über die kleinen Fortschritte Giamblancos bei der Physiotherapie, die finanziellen Sorgen der Familie und die Auseinandersetzung mit der Tat, die vor 26 Jahren ihr Leben brutal veränderte. Seine letzte Reportage wurde am 27. November 2022 veröffentlicht: »Zurück in den aufrechten Stand: Der Kampf des Orazio Giamblanco – 26 Jahre nach einem Nazi-Angriff«

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Stichwort „Orazio“

Bis zu einer Spendensumme von 200 Euro pro Einzelspende genügt den Finanzbehörden ein “vereinfachter Spendennachweis”. Diese finden sie hier. Wer eine Quittung möchte, nennt bitte auf der Überweisung die Anschrift. Die Spendenbescheinigungen verschicken wir im Februar des Folgejahres.


Zurück in den aufrechten Stand: Der Kampf des Orazio Giamblanco – 26 Jahre nach einem Nazi-Angriff

Seit einer Skinhead-Attacke 1996 ist Orazio Giamblanco schwer behindert. Im vergangenen Jahr sprach er vom Sterben. Nun gibt es einen Lichtblick. Von Frank Jansen

Es ist ein kleines Wunder. Vor einem Jahr wirkte Orazio Giamblanco, als sei er fast am Ende. Der 81 Jahre alte, seit einem rassistischen Angriff schwer behinderte Italiener bewegte sich kaum. Er weinte, er sprach vom Sterben. Jahrzehnte des Leidens, physisch wie psychisch, schienen den in Bielefeld lebenden Mann endgültig zu zermürben. Doch jetzt gibt es einen Lichtblick.

Vergangenen Montag schafft Orazio mit zupackender Hilfe des jungen Physiotherapeuten Tim Lange einen beinahe aufrechten Stand. Vor dem Rollstuhl im Treppenhaus an der Wohnung. Die zitternden Hände greifen nach den nahen Stangen am Treppengeländer. „Mach dich gerade!“, ruft Lange. Der alte Mann in der graublauen Strickjacke stöhnt. Er will seiner spastischen Lähmung einen kleinen Erfolg abringen.

Orazio hebt den Kopf und ruckelt mit dem Oberkörper die Zentimeter zwischen Rollstuhl und Stangen vor und zurück. Das Stöhnen wird heftig, doch er steht weiter und gibt nicht auf. Tim Lange auch nicht. Mit seinen Unterarmen umklammert er Orazios Brust und Rücken. Nach zehn Minuten ist Schluss. Orazio kann nicht mehr. Er schwankt nach hinten, hin zum Rollstuhl. Lange schafft es mit etwas Mühe, den kompakten Mann sicher zum Sitzen zu bringen. Der Physiotherapeut strahlt, „sehr gut!“ Orazio sagt nichts. Zum Sprechen fehlt jetzt die Kraft.

Skinheads veranstalteten eine Hetzjagd

Das kleine Wunder ist eine Episode im großen Wunder, dass der Italiener überhaupt noch lebt. Vor 26 Jahren, am 30. September 1996, schlug ihm in Trebbin der Skinhead Jan W. eine Baseballkeule gegen den Kopf. Orazio und weitere Italiener waren erst seit ein paar Tagen als Hilfsbauarbeiter in der Kleinstadt südlich von Berlin. Die örtliche rechte Szene wollte die Ausländer, die zu einer Großbaustelle gekommen waren, vertreiben. Die Skinheads schwärmten aus zur Hetzjagd.

Orazio wurde nahe der damaligen Feuerwehrwache lebensgefährlich verletzt. Er überlebte nur dank zweier Notoperationen im Klinikum Luckenwalde. Die jungen Rechtsextremen attackierten in jener Nacht auch weitere Italiener. Doch keiner wurde so schwer getroffen wie Orazio.

Länger als ein Vierteljahrhundert leidet Orazio mehr, als dass er lebt. Spastische Lähmung, Sprachstörungen, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen, Depressionen. In Bielefeld, von wo er einst nach Trebbin aufgebrochen war, pflegen ihn bis zur totalen Erschöpfung seine heute 71-jährige, griechische Lebenspartnerin Angelica Stavropolou und deren 48 Jahre alte Tochter Efthimia Berdes, genannt Efi.

Eine historische Tragödie

Im April 1997 habe ich Orazio und Angelica das erste Mal getroffen. Orazio lag damals in der neurologischen Klinik „Lindenbrunn“ im niedersächsischen Coppenbrügge. Ein Arzt sagte, es sei „extremst unwahrscheinlich“, dass der Patient jemals wieder gesund wird. Eine grässliche Diagnose. Und leider zutreffend.

Ein Journalist schreibt nur ungern in der Ich-Form, doch in diesem Fall wäre eine neutrale Sprache unpassend. Seit 1997 fahre ich Jahr für Jahr nach Bielefeld, für Orazio und die beiden Frauen bin ich längst das Familienmitglied „Franco“. Doch es geht nicht um eine Tränenstory. Dieser Fall ist Teil einer historischen Tragödie.

Orazio ist ein Opfer unter weit mehr als 10.000 Männern, Frauen und Kindern, die in Deutschland seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremisten angegriffen und verletzt wurden. Hinzu kommen mehr als 180 Menschen, die durch rechte Attacken starben. Die jährliche Reportage über Orazio, Angelica und Efi soll exemplarisch zeigen, welches Leid rechtsextreme Gewalt verursacht. Im konkreten Fall lebenslang.

Der Täter Jan W. hingegen ist längst aus dem Gefängnis heraus. Das Landgericht Potsdam hatte ihn 1997 zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt. Nach acht Jahren kam er frei, auf Bewährung. Jan W. bereute die Tat und hat sich 2006 in zwei Briefen an Orazio und die beiden Frauen entschuldigt. Was er heute denkt, bleibt unklar. Der Ex-Skinhead brach den Kontakt zum Tagesspiegel ab, nachdem ich 2016 über seine Sympathien für die AfD berichtet hatte.

Orazio kämpft seit Jahrzehnten darum, dem spastisch verkrampften Körper etwas mehr freie Bewegung abzutrotzen. Lange konnte er am Rollator laufen, doch das ist seit vergangenem Jahr vorbei. Sein Zustand verschlechterte sich, außerdem brach sich Angelica im Dezember 2021 den linken Fuß und fiel bei der Pflege aus. Ein Schock für alle drei. Tim Lange sagt, Orazio habe nur noch die rechte Hand heben können.

Angelica saß dann drei Monate ebenfalls im Rollstuhl. Ihre Tochter Efi war noch stärker belastet als sonst schon. Sie arbeitet in einer Schokoladenfabrik, in drei Schichten. Freizeit ist ein Fremdwort. Ein Mann, der als Partner Verständnis für Efis Hilfe bei der Versorgung Orazios aufgebracht hätte, fand sich bis heute nicht. „Orazio ist ein Vollzeitjob“, sagt Efi, „Heiraten ist nicht“.

Dieses Jahr war für die drei eines der härtesten seit 1996. Orazio sei fünf Mal im Krankenhaus gewesen, sagt Lange. Zuletzt im September. Orazio litt noch stärker als sonst unter Magenproblemen, Verstopfung und dann auch akutem Kalium-Mangel. Der Blutdruck schoss in die Höhe. Im Krankenhaus wurde Orazio zudem depressiver, weil er wegen der strengen Coronaregeln kaum besucht werden durfte.

Angelica erholt sich nur langsam vom Bruch im linken Fuß. „Ich habe immer noch Schmerzen, wenn ich länger gehe“, sagt sie. Orazio nuschelt mühsam, „wir haben sehr schwer gehabt“. Die ambulanten Pflegekräfte, von den Frauen über Agenturen engagiert, waren nur eine mäßige Hilfe. „Einer hatte ständig Bauchweh und konnte Orazio nicht aus dem Bett heben“, sagt Efi. Eine Frau habe lieber Kaffee getrunken, als zu helfen. Im Moment kümmert sich ein Onkel von Angelicas Schwiegertochter. Bei meinem Besuch ist der kräftige Rentner dabei, ab und zu schiebt er Orazio im Rollstuhl. Eine Notlösung.

Trebbin ringt mit sich selbst

Das Leid in Bielefeld reicht eigentlich für die jährliche Reportage dieser Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt. Doch da gibt es noch eine Geschichte. Die einer Kleinstadt, die sich mühsam an eines ihrer dunkelsten Kapitel seit der Wiedervereinigung erinnert.

Trebbin ringt seit der Tat vom 30. September 1996 mit sich selbst. Mal verschämt und kaum hörbar, dann wieder mit einer Klarheit, die erstaunt. Trebbin, knapp 10.000 Einwohner, erscheint fast schon wie ein Labor für den schwierigen Umgang einer kleinen, ländlichen Kommune mit den Folgen rechtsextremer Gewalt.

Nach dem Angriff auf Orazio und die weiteren Italiener war hier Entsetzen zu spüren. Bei einer Spendenaktion für Orazio kamen in Trebbin 9000 D-Mark zusammen. Doch dann folgten Jahre der Sprachlosigkeit. Das änderte sich erst, als ein junger Jurastudent 2008 als parteiloser Einzelkandidat ins Stadtparlament gewählt wurde.

Hendrik Bartl, damals 19 Jahre alt, las den Verordneten aus der Reportage des Tagesspiegels über den Zustand von Orazio Giamblanco vor. „Die waren erschrocken, dass das schon vergessen war“, erzählte er mir Ende 2008. Bartl konfrontiert seitdem das Stadtparlament Jahr für Jahr mit der neuen Geschichte aus der Zeitung.

Das wirkt mal mehr, mal weniger. Das Rathaus richtete damals ein Spendenkonto ein. Im Januar 2009 gab es zudem in der „Kulturscheune“ im Ortsteil Thyrow ein Benefizkonzert. Da verkündete der damalige Bürgermeister Thomas Berger (CDU), Trebbin müsse zeigen, „dass wir den festen Willen und die Kraft haben, dass so etwas in unserer Stadt nie wieder passieren kann“. Ich wurde gebeten, dem Publikum zu berichten, wie es Orazio und den beiden Frauen geht. Im Saal saß auch Jan W. Er war gerührt, äußerte sich aber nicht und blieb auch unbehelligt.

Beim Besuch hatten die Politiker Tränen in den Augen

Den Worten des Bürgermeisters folgte eine Zäsur. Im November 2009 fuhren erstmals Trebbiner Kommunalpolitiker mit mir zu Orazio und den beiden Frauen. Hendrik Bartl, Vizebürgermeisterin Ina Schulze und Peter Blohm, damals Vorsitzender des Stadtparlaments, wurden in Bielefeld herzlich empfangen. Die Kommunalpolitiker waren ergriffen und erschüttert. Sie sahen, wie sich Orazio bei der Krankengymnastik quälte. „Ich konnte mir das nicht vorstellen“, sagte Blohm. Die Politiker hatten Tränen in den Augen.

Dann folgten wieder Jahre, in denen wenig geschah. Bis 2020 die inzwischen ins Stadtparlament eingezogene Satirepartei „Die Partei“ mit einem provokanten Vorschlag Wirbel verursachte. Das neue, wuchtige Feuerwehrgebäude, damals noch im Bau, solle nach Orazio Giamblanco benannt werden, forderte der Verordnete Sascha Riedel.

Eine Idee mit Hintergedanken: Feuerwehrchef Silvio Kahle, 2020 auch Mitglied der Stadtverordnetensammlung, gehörte zu der Skinhead-Clique, die im September 1996 in Trebbin Italiener gejagt hatte. Sechs Jahre nach der Horrornacht mussten sich Kahle und weitere Kumpane vor dem Amtsgericht Luckenwalde verantworten. Der Beinahe-Mörder Jan W. hatte seine früheren „Kameraden“ belastet, weil er sich in der Haft im Stich gelassen fühlte. Kahle kam allerdings beim Gericht mit einer Verwarnung davon.

Nicht nur in der Feuerwehr regte sich vor zwei Jahren Widerstand gegen die Benennung des neuen Gerätehauses nach einem Opfer rechter Gewalt. Im Stadtparlament wurde heftig diskutiert. Im Dezember 2020 rangen sich die Verordneten zu einem Kompromiss durch.

Beschlossen wurde, den Tatort nahe der alten Feuerwache, an dem Orazio beinahe sein Leben verloren hätte, in „Orazio-Giamblanco-Platz“ umzubenennen. Und daneben eine Stele zu platzieren, mit einer Inschrift zur Erinnerung an den rechten Angriff und einer Mahnung zum Engagement gegen Rassismus.

So wurde es dann auch gemacht. Symbolträchtig am 30. September 2021, auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Keulenschlag gegen Orazios Kopf. Hendrik Bartl und Ina Schulze hielten kurze Ansprachen. Auch Silvio Kahle erschien, blieb aber still. Doch ein Jahr später gab es einen Eklat.

Feuerwehrchef wirbt ausgerechnet am Giamblanco-Platz

Kahle kandidierte im Sommer 2022 trotz seiner rechtsextremen Vergangenheit bei der Bürgermeisterwahl – und warb ausgerechnet am „Orazio-Giamblanco-Platz“ mit einem großen Transparent. Das gab Unmut. „Gerade dieser Kandidat hätte sich dreimal überlegen müssen, ob er das an diesem Ort macht“, sagte Bürgermeister Berger.

Auch Hendrik Bartl war unglücklich, die Satirepartei „Die Partei“ schmähte Kahle sogar als „menschenverachtendster aller Kandidaten“. Kahle selbst war genervt, sich immer noch für seine wilde Jugend in der rechten Clique verantworten zu müssen. Aber er gab zu, er habe bei der Wahlwerbung am Ort des Angriffs auf Orazio Giamblanco „den gedanklichen Bogen nicht hinbekommen“.

Bei der Wahl im September landete Kahle nur auf dem fünften Platz. Ob die Trebbiner Wählerinnen und Wähler den Kandidaten wegen alter Sünden plus aktuellem Mangel an Sensibilität abstraften, bleibt offen. Berger und weitere Kommunalpolitiker hatten Kahle ein besseres Ergebnis zugetraut. Wahlgewinner Ronny Haase, parteilos, engagierter Christ und bislang Trebbins Stadtkämmerer, sagt jetzt am Telefon, „Kahle ist ein sehr guter Feuerwehrmann, fachlich hat er sehr viel auf der Kirsche“.

Haase will als Bürgermeister den empathischen Kurs seines langjährigen Vorgängers Thomas Berger fortsetzen. „Natürlich läuft die Spendenaktion für Orazio Giamblanco weiter“, sagt er, „das liegt mir am Herzen“. Haase betont, dass die Stadt jetzt jährlich mit rund 10.000 Euro ein Präventionsprogramm an der Goethe-Oberschule finanziere. Um die Schülerinnen und Schüler frühzeitig über die Gefahren von Extremismus aufzuklären.

Der neue Bürgermeister möchte zudem Giamblanco und die beiden Frauen in Bielefeld besuchen. „Bestellen Sie bitte meine herzlichsten Grüße“, sagt Haase. Er hoffe, dass Giamblanco „nicht generell schlecht über uns Deutsche denkt“. Und wie Hendrik Bartl, inzwischen Vorsteher des Stadtparlaments, schaut Haase immer wieder mal am Orazio-Giamblanco-Platz vorbei. Auch um zu sehen, ob Stele und Straßenschild weiterhin frei sind von Schmierereien.

Bislang ist nichts passiert. „Jedes Mal, wenn ich da entlangfahre, gucke ich“, sagt Bartl. Offenbar funktioniert Trebbin als Labor der Bewältigung der Folgen rechter Gewalt inzwischen ganz gut.

Das wird auch in Bielefeld wahrgenommen. Orazio und die Frauen hätten nichts gegen einen Besuch von Haase. Und sie waren sehr angetan, als ich ihnen vor einem Jahr die Fotos von der Umbenennung des Areals am Tatort in „Orazio-Giamblanco-Platz“ zeigte. Die drei wären gerne zu der kleinen Zeremonie gekommen, doch Orazio ging es so schlecht, dass er nicht reisefähig war.

Die Familie nennt die Tat meist nur „Unfall“

Auch jetzt ist sein Zustand immer noch fragil, doch am Montag sagt er, „Franco … wir kommen nach Berlin“. Der Name Berlin ist für ihn offenbar eine Chiffre für das weit entfernte Brandenburg. Orazio und die beiden Frauen erwähnen auch nie den Namen Trebbin. Und sie nennen die Tat von 1996 meist nur „Unfall“. Vielleicht ein Versuch, die Ursache des endlosen Leidens nicht ganz so grausig erscheinen zu lassen.

Doch Orazio, Angelica und Efi haben durchaus registriert, dass der Platz in Trebbin umbenannt und eine Stele aufgestellt wurde, weil hier ihr Leben eine brutale Zäsur erfuhr.

Angelica ist vorsichtig, will aber eine Reise nach „Berlin“ nicht ausschließen. „Wenn es dir besser geht“, sagt sie zu Orazio, „dann schaffen wir das. Bist du stabil, gehen wir“. Wenn auch Tim Lange mitkommen könnte, der junge, energiegeladene Physiotherapeut, der Orazio und die Frauen gern mit kecken Sprüchen zum Lachen bringt. Orazio nickt. Tim Lange vorsichtig auch.

Kurz darauf muss Orazio wieder einmal heftig husten. Die chronische Bronchitis nimmt kein Ende. Der ganze Körper zittert. Tim Lange springt auf und massiert ihm die Brust. Der Husten ist dann erstmal weg. Orazio blickt nach unten. Er murmelt „Atem … schwer“.

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