Amtsgericht Cottbus: Täterschutz im Schnelldurchlauf


ACBahn, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Im Juli 2022 reist eine Hamburger Schulklasse für ihre Abi-Abschlussfahrt auf die Insel Pag in Kroatien. Drei der Schüler:innen, zwei junge Frauen und ein junger Mann, machen sich in den frühen Abendstunden auf den Weg vom Strand zurück zu ihrer Unterkunft. Sie begegnen drei Männern, ebenfalls deutscher Herkunft, wie sich nach einem abfälligen Kommentar über die Kleidung der zwei Frauen aus der Gruppe herausstellt. Die Männer, junge Cottbuser aus der Ultraszene des FC Energie, zeigen den sogenannten „Hitlergruß“ und skandieren nationalsozialistische Parolen. Das sei in Kroatien schließlich nicht verboten, heißt es provokant, als die drei Hamburger:innen ihr Unverständnis und Missfallen darüber zum Ausdruck bringen.

Die Hemmungslosigkeit, mit der die drei Cottbuser den NS verherrlichen, schockiert die Freund:innen. Nachdem sie ihre Ablehnung deutlich machen, versuchen sie, das Gespräch zu beenden und zu ihrem Ferienquartier zu gelangen. Die Cottbuser bedrängen jedoch die Frauen, beleidigen sie sexistisch und fordern sie zum Oralverkehr auf, und dazu, sie zu küssen. Die Frauen unternehmen einen weiteren Versuch, sich aus der Situation zu lösen. Sie bitten ihren Freund, die Aussagen der Rechten zu ignorieren und zu seinem Ferienbungalow zu laufen, während sie sich selbst in ihre Ferienwohnung zurückziehen. Es scheint zunächst so, als sei die Deeskalation geglückt. Doch die zwei Freundinnen machen sich Sorgen um ihren Klassenkameraden und rufen ihn auf seinem Handy an. Schnell stellt sich heraus: Die Cottbuser Neonazis haben ihn verfolgt und noch vor seiner Unterkunft eingeholt. Aus der Gruppe heraus wird der junge Hamburger von einem von ihnen, dem 18-jährigen Phillip David R., geschlagen und verletzt.

Die drei Freund:innen erstatten Anzeige und schildern die Ereignisse bei ihren Zeugenaussagen beim Landeskriminalamt in Hamburg. Und tatsächlich kommt es Anfang 2024 zu einem Gerichtsverfahren gegen den Haupttäter. Seine Begleiter konnten nicht ermittelt werden. Verhandelt wird in Cottbus, dem Wohnort des Täters. Ihm wird eine gefährliche, weil gemeinschaftlich begangene, Körperverletzung vorgeworfen. Die Hamburger Freund:innen, die mittlerweile in unterschiedlichen Städten studieren, reisen trotz Bahnstreiks quer durch die Republik an. Doch das Verfahren platzt: Die Jugendgerichtshilfe, die wegen der Einstufung des Täters als heranwachsend zwingend anwesend sein muss, erscheint nicht und ist auch telefonisch nicht erreichbar. Die Richterin vertagt das Verfahren. Sie verzichtet aber darauf, zum nächsten Termin Zeug:innen zu laden, um den Betroffenen die lange Reise zu ersparen, wie sie sagt.

Im März wird erneut verhandelt. Phillip David R. gibt den Schlag zu, stellt die Geschehnisse aber anders da. Er sei provoziert worden, sagt er. Es sei ein Kampf „Mann gegen Mann“ gewesen, zu dem er aufgefordert worden sei. Die sexistischen Übergriffe, die „Hitlergrüße“ und NS-Parolen, das Nachstellen der Gruppe vor der Tat – all das kommt bei ihm nicht zur Sprache.

Dies darf letztlich nicht verwundern: Als Angeklagter hat er das Recht zu schweigen, sich nicht selbst zu belasten, gar zu lügen. Es sind jedoch an diesem Tag keine Zeug:innen da, die ihm widersprechen könnten. Aber – die Zeugenaussagen stehen ja in den Gerichtsakten. Jetzt wäre es an der Richterin und der Staatsanwältin, diese Informationen in die Verhandlung einzuführen, kritische Nachfragen zu stellen, oder den rechten Hintergrund der Tat zu thematisieren. Umso mehr, als das §46 Abs. II des Strafgesetzbuches festhält, dass bei der Strafzumessung „die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, geschlechtsspezifische, gegen die sexuelle Orientierung gerichtete oder sonstige menschenverachtende“ strafverschärfend zu berücksichtigen sind. Auch wäre es für die Staatsanwaltschaft ein Leichtes gewesen, das Facebook-Profil des Täters, auf dem „Gefällt mir“-Angaben zur Unbequemen Jugend Cottbus und den WK13 Boys – zwei neonazistischen Hooligangruppierungen aus der Fanszene des FCE – zu finden sind, zu sichern und in die Hauptverhandlung einzuführen.

Von all dem geschieht… nichts. Keine Nachfragen, kein Interesse, keiner da, der widerspricht. Die Aussage des Täters wird für bare Münze genommen. Aus vorgeblichem Opferschutz wird Täterschutz. Die Staatsanwältin entschließt sich gar, den Tatvorwurf von gefährlicher Körperverletzung zu einfacher Körperverletzung abzumildern. Die Beweisaufnahme verkommt zur Farce. Am Ende wird Phillip David R. nach Jugendstrafrecht zu einer Geldstrafe von 250 Euro verurteilt. Ein Urteil, das in keiner Weise dazu geeignet ist, den jungen Neonazi von weiteren Taten abzuschrecken oder auch nur erzieherisch auf ihn einzuwirken. Wenn das Gericht seine Gesinnung nicht hinterfragt, warum sollte es der Täter tun?

Seit Jahren kritisiert die Opferperspektive überlange Verfahrensdauern im Gerichtsbezirk Cottbus. In der Vergangenheit konnte man von einer De-facto-Straffreiheit für rechte Gewalttäter sprechen. In jüngerer Zeit ist hier eine Veränderung zu spüren: Lange zurückliegende Verfahren, etwa aus den Jahren 2017 und 2018, wurden im vergangenen Jahr endlich zum Abschluss gebracht. Auch in diesem Fall bedeutet ein Gerichtsverfahren nicht einmal zwei Jahre nach der Tat für Cottbuser Verhältnisse ein nahezu rasantes Bearbeitungstempo. Allerdings sind Verfahrensabschlüsse wie dieser nicht viel wert, wenn sie auf Kosten der Betroffenen und der Sorgfalt der Beweisaufnahme gehen. Rechte Hintergründe von Gewalttaten dürfen nicht verschwiegen werden, nur um schnell und einfach ein Urteil fällen zu können.

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