„Der Angriff hat uns zusammengeschweißt“ Interview mit Judith vom Bündnis „Bad Freienwalde ist bunt“


Die Kundgebung “Bad Freienwalde ist bunt” wurde im Juni 2025 von bewaffneten Neonazis angegriffen. Judith aus dem gleichnamigen lokalen Bündnis berichtet in diesem Interview über den Angriff und den Umgang damit.


Opferperspektive: Du bist im Bündnis „Bad Freienwalde ist bunt“ aktiv. Bitte beschreibe, wer ihr seid und was ihr macht.

Judith: Das Bündnis „Bad Freienwalde ist bunt“ ist seit 2021 aktiv. Die Kleinstadt Bad Freienwalde hat ca. 12.000 Einwohner:innen und liegt im Osten Brandenburgs an der Grenze zu Polen. Der ländliche Raum ist jedoch deutlich vielfältiger, als manche vielleicht denken. Der größte Arbeitgeber hier ist ein sozialer Träger, der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen unterhält. Dazu gibt es die Kurklinik. Hier leben queere Menschen und solche in binationalen Partnerschaften sowie Menschen mit Fluchterfahrung. All das zeigt: Auch die Gesellschaft in der Kleinstadt und in den Dörfern drumherum ist vielfältig. In unserem Bündnis finden sich Leute von hier und Zugezogene, Mitglieder verschiedener demokratischer Parteien und solche, die sich auch in anderen sozialen oder kulturellen Kontexten einbringen.
Seit Gründung des Bündnisses veranstalten wir eine Sommer-Kundgebung, die genauso heißt wie die Gruppe: Bad Freienwalde ist bunt. An diesem Tag gehört der Marktplatz dieser vielfältigen Stadtgesellschaft. Darüber hinaus organisieren wir anlassbezogen Demonstrationen oder beteiligen uns an solchen. In diesem Jahr hatten wir erstmals Info- und Mitmachstände bei Straßenfesten. Am 9. November laden wir zu einem Rundgang zu den Stolpersteinen in der Stadt.
Uns verbindet der Wunsch, die gesellschaftliche Vielfalt hier vor Ort sichtbar zu machen, für Demokratie und Solidarität einzutreten. Dabei wollen wir auch gerade für junge Menschen zeigen: Bad Freienwalde ist bunt und nicht blaubraun.

Am 15. Juni 2025 wurde eure Kundgebung „Bad Freienwalde ist bunt“, die ihr in ähnlicher Form bereits zum fünften Mal organisiert, von bewaffneten Neonazis angegriffen. Was genau ist passiert?

Kurz vor Beginn der Veranstaltung stürmte eine Gruppe maskierter Menschen den Veranstaltungsort. Vermutlich waren es Jugendliche oder junge Männer, insgesamt ca. 10 bis 12 Angreifer. Sie waren sehr schnell, und einige von ihnen waren offensichtlich kampfsporttrainiert und auch entschlossen, an diesem Tag Gewalt anzuwenden. Mehrere unserer Mitwirkenden wurden ins Gesicht geschlagen. Dabei trugen die Angreifer schlagverstärkende Handschuhe. Ein Opfer musste an einem Knochenbruch operiert werden. Der Angriff ging sehr schnell. Bevor alle auf dem Platz realisieren konnten, was passierte, liefen die Angreifer auch schon wieder weg.

Durch das mutige Einschreiten von Ordner:innen und Teilnehmenden konnte, so schreibt ihr auf eurer Webseite, Schlimmeres verhindert werden. Wie konntet ihr den Angriff abwehren?

Wir hatten ein erfahrenes Schutzteam und auch sehr mutige Teilnehmende. Alle zusammen stürmten in die Mitte des Platzes – den Angreifern entgegen. Dazu gab das Schutzteam den Impuls, und andere folgten. Sie liefen den Angreifern entschlossen entgegen und schrien aus vollem Hals: „Haut ab!“ und „Nazis raus!“. Es ist schwer zu beschreiben, wie sich eine solche kollektive Power anfühlt, aber sie war sehr deutlich zu spüren. Einer der Angreifer schrie dann „Abbruch“ und die Angreifer liefen weg.

Trotz des Angriffs konntet ihr eure Kundgebung anschließend durchführen. Wie war die Stimmung im Anschluss?

Der Angriff wurde Teil der Realität dieses Tages. Verrückterweise war es für mich überhaupt keine Frage, dass wir nach dem Angriff unser Programm durchziehen. Einige Tage später hatten wir ein Nachtreffen, und ich habe die anderen Mitglieder unserer Gruppe gefragt, wie es ihnen ging. Nicht eine einzige Person hatte an diesem Tag an den Abbruch der Veranstaltung gedacht. Auch an den Ausstellungsständen sind alle Mitwirkenden geblieben, selbst diejenigen, die einen Schlag abbekommen hatten. Ein direkt am Marktplatz gelegenes Restaurant brachte uns Kühlpads aus dem Gefrierschrank.
Von der Bühne informierten wir regelmäßig darüber, was passiert war, da ja auch den Nachmittag über immer wieder neue Teilnehmer:innen kamen, die noch nichts mitbekommen hatten. Zugleich wiesen wir auf Hilfsangebote hin: auf euch, die Opferperspektive, aber auch auf die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt (BOrG). Wir fragten auch am Mikro, wer noch Hilfe oder Unterstützung brauchte.
In der Rückschau von heute aus gesehen würde ich die Stimmung nach dem Angriff nicht als kämpferisch beschreiben, eher als widerständig. Jede Person musste einen Weg finden, mit dem Erlebten umzugehen. Aber niemand musste allein sein. So brutal wie die persönliche Erfahrung besonders für diejenigen war, die die Gewalt unmittelbar erfahren hatten, so positiv war die gemeinschaftliche Erfahrung, die Kundgebung „trotz allem“ durchzuführen, uns nicht vertreiben zu lassen.

Habt ihr bereits zuvor bei anderen Aktivitäten des Bündnisses Anfeindungen erfahren? Kannst du berichten, wie ihr damit umgegangen seid?

Tatsächlich mussten wir zu allen vorhergehenden Kundgebungen oder auch zu Demos zuvor die Polizei rufen. Natürlich sind unsere Veranstaltungen angemeldet, aber die Polizei bleibt eben nicht immer vor Ort. Wenn sie nicht da ist und etwas passiert, müssen wir sie entsprechend rufen. Was wir häufiger erlebt haben, waren Rufe oder Pöbeleien von der gegenüberliegenden Straßenseite. Dass wir fotografiert oder gefilmt werden, kommt ebenfalls vor. Aber auch Bedrohungen mit einem Messer oder Schlagstock haben wir bei Veranstaltungen schon erlebt.
Im letzten Jahr gab es zudem zwei Graffitis in Bad Freienwalde: „Fuck Antifa – wir kriegen euch“ und „Brandenburg zeckenfrei“, jeweils verbunden mit dem Logo der NRJ, der Nationalrevolutionären Jugend des III. Weges. Wir versuchen, so oft es geht, ein Schutzteam in unsere Veranstaltungen einzubinden. Das gelingt leider nicht immer, schließlich engagieren wir uns alle ehrenamtlich. Zudem rufen wir die Polizei. Und schließlich vernetzen wir uns mit anderen erfahrenen Gruppen oder auch mit Beratungsstellen wie euch.

Wie habt ihr das Medienecho nach dem Angriff erlebt?

Der rbb war unserer Einladung gefolgt und wollte die Kundgebung filmen, filmte jedoch (spontan mit dem Handy) den Angriff. Aufgrund dieser Fernsehbilder war sofort ein dpa-Reporter auf dem Platz und die dpa-Meldung wurde am Folgetag breit von der Presse übernommen. Sehr viele legten dann auch mit eigenen Interviews oder Reportagen nach.
Tatsächlich geht es bei solchen Angriffen nicht nur um die unmittelbare Gewalt, sondern auch um die Deutungshoheit über die Situation im Nachhinein. Das haben wir nach dem Angriff gelernt. Rechtsextreme Kreise haben sehr schnell versucht, den Angriff zu verharmlosen und zu legitimieren. Das heißt: Das Geschehen wäre ja nicht so schlimm gewesen, alles völlig übertrieben dargestellt. Und falls da überhaupt etwas war, dann hätte es ja auch irgendwie die Richtigen getroffen. Ungefähr so lief der rechtsextreme Spin.
Wenig hilfreich war in diesem Kontext, dass Journalist:innen unsere Kundgebung als queere Veranstaltung gelabelt haben – das passte für die gut in den Pride Month. Natürlich haben auch queere Künstler:innen und Organisationen bei uns mitgewirkt. Aber es war eben keine ausschließlich queere Veranstaltung.

Der rechten Desinformation und bisweilen unsauberen journalistischen Arbeit sind wir mit zwei Kernbotschaften entgegengetreten:
1. Wir haben einen sehr brutalen gewalttätigen Angriff erlebt und
2. dieser Angriff galt nicht einer spezifischen Gruppe, sondern uns allen.
Während des Angriffs waren Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior:innen auf dem Platz, Menschen mit Behinderung oder Migrationsgeschichte, queere Menschen. Es war ein Querschnitt der Gesellschaft – und wir alle wurden angegriffen.

Der damals gerade neu ernannte Innenminister hat eure Kundgebung noch am selben Tag besucht. Der Bürgermeister von Bad Freienwalde hingegen relativierte den Angriff lapidar als „Störung“. Wie habt ihr die Reaktionen aus Landespolitik und Kommune erlebt und wie bewertet ihr diese?

Dass Innenminister René Wilke sofort zu uns kam, haben wir als sehr positiv empfunden. Das lag vor allem daran, wie er vor Ort aufgetreten ist. Er wollte nicht auf die Bühne, sondern einfach mit uns, mit den Betroffenen sprechen, seine Anteilnahme ausdrücken. Er sagte, der Vorfall würde ihn an seine Jugend in Frankfurt/Oder erinnern. Er sei dort in den Baseballschlägerjahren aufgewachsen, und so etwas dürfe sich nicht wiederholen. Solche Aussagen machen einen Spitzenpolitiker sehr nahbar und hinter dem Amt wird ein Mensch sichtbar, der glaubwürdig empathisch ist. Das war an diesem Tag sehr stärkend.
Der Bürgermeister hat uns mit seiner Aussage, es sei nur eine Störung gewesen, keinen Gefallen getan, und er hat auch sich selbst und der Stadt keinen Gefallen getan. Das Erstarken der extremen Rechten kleinzureden, hilft niemandem. Dass es – nach einer langen Entwicklung – doch auch anders geht, zeigt die Bürgermeisterin von Spremberg, Christine Herntier. Man muss Dinge benennen, um sie zu begreifen und dann auch gemeinsam zu bearbeiten.

Die Polizei hatte die Gefährdung offenbar falsch eingeschätzt und war während des Angriffs nicht direkt vor Ort präsent. Was fordert ihr für zukünftige Veranstaltungen?

Wir wollen in jedem Fall weiterhin öffentliche Veranstaltungen in Bad Freienwalde machen. Daher haben wir nach dem Angriff auf unsere Kundgebung den Austausch mit Inka Gossmann-Reetz gesucht, der Polizeibeauftragten des Landes Brandenburg. Wir wünschen uns mehr Dialog mit der Polizei, damit wir zu einer gemeinsamen Einschätzung der Gefährdung kommen.
Nach dem Angriff war teilweise zu lesen, die Polizei könne nicht jedes Dorffest mit einer Hundertschaft bewachen. Das würde auch den Charakter der Veranstaltung völlig verändern. Wir denken, dass eine sichtbare Präsenz der Polizei helfen würde, und zwar vom Beginn des Aufbaus bis zum Ende des Abbaus. Wäre der Angriff so erfolgt, wenn zwei oder drei Polizist:innen direkt auf oder am Platz gewesen wären? Darüber würden wir uns gerne ausführlicher mit der Polizei unterhalten.
Unsere Kundgebung stellt die Werte des Grundgesetzes in den Fokus. Wir setzen uns ein für die Demokratie, für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, gegen Diskriminierung. Solche Veranstaltungen müssen auch in ländlichen Räumen möglich sein und ich erwarte von der Polizei, dass sie die Gefährdungseinschätzung den Realitäten anpasst.

Wie schätzt ihr die Entwicklung rechtsextremer Gruppen und deren Gewaltpotential in eurer Region ein? Was wären aus eurer Sicht nötige Schritte, um dieser Entwicklung zu begegnen?

Seit einigen Jahren berichten engagierte Journalist:innen über neue rechtsextreme Gruppen, die sich in den sozialen Medien zusammenfinden und nun stärker öffentlich sichtbar werden. Das sehen wir auch z. B. an Stickern, die in Bad Freienwalde an Laternen geklebt werden. Ansonsten ist es schwer, konkrete Gruppen und deren Akteure zu identifizieren. Die Beobachtung der rechtsextremen Szene läuft ausschließlich ehrenamtlich, und wir vernetzen uns mit den Menschen, die sich auskennen.
Es wäre wichtig, dass Kommunalpolitiker:innen und auch Gewerbetreibende sowie andere Vereine – dass einfach alle – sagen: Wir stehen gemeinsam gegen Rechtsextremismus und gegen Gewalt. Da das nicht passieren wird, bleibt es oft ein Werben um jede einzelne Person.

Wie blickt ihr jetzt, knapp ein halbes Jahr nach dem Vorfall, auf den Angriff? Welche Folgen hatte dieser auf euer Bündnis und eure Arbeit vor Ort?

Uns als Gruppe hat der Angriff zusammengeschweißt. Wir empfinden unser Engagement als notwendiger denn je und freuen uns, dass sich unmittelbar nach dem Angriff sowohl Förderer gemeldet haben als auch Menschen, die die nächste Veranstaltung mitgestalten wollen. Das heißt: Unsere Aktivitäten 2026 sind bereits finanziert, was eine sehr große Erleichterung ist. Und wir können nun in die Planung für die Kundgebung im nächsten Jahr starten und uns wieder auf ein sehr vielfältiges Programm freuen.
Zudem haben wir auch sehr gute Gespräche mit Menschen aus einem eher bürgerlich-konservativen Spektrum geführt, die vorsichtige Kooperationsbereitschaft signalisiert haben. Es würde uns sehr freuen, auch Menschen außerhalb unserer Bubble zu erreichen. Daher sind wir gespannt, wie sich das weiterentwickeln wird.

Gibt es etwas, was ihr anderen Bündnissen im Land, die sich für eine vielfältige Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus engagieren, mitgeben möchtet?

Wir dürfen uns nicht verschleißen. Wir müssen uns so organisieren, dass wir unser Engagement über sehr viele Jahre durchhalten. Daher organisieren wir nur zu sehr ausgewählten Anlässen Gegenprotest gegen rechtsextreme Veranstaltungen. Viel lieber organisieren wir eigene Formate, die wir als so viel positiver und stärkender empfinden. Da fällt mir unsere queerfeministische Tanzdemo im Frühjahr 2024 ein. Das war ein großer Spaß. Es geht nicht darum zu sagen, das eine Format ist besser als das andere, sondern es geht darum für sich selbst und als Gruppe herauszufinden, woraus man gemeinsam neue Energie schöpfen kann. Denn diese werden wir brauchen.


Dies ist die Langfassung des Interviews, das in gekürzter Form in der Ausgabe Dezember 2025 der Schattenberichte erschienen ist.

Über den Angriff auf das Fest “Bad Freienwalde ist bunt” im Juni 2025 ist ein Podcast erschienen.

Infos vom Bündnis Bad Freienwalde ist Bunt gibt es auf ihrer Webseite und auf Instagram.

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