Die »Residenzpflicht« muss aufgehoben werden

Demonstration gegen die Residenzpflicht im Mai 2001
Demonstration gegen die Residenzpflicht im Mai 2001

»Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.« (§ 56 Abs. 1 AsylVfG)

Die Opferperspektive ist ein gemeinnütziger Verein, der Opfer rechtsextremer Gewalt in Brandenburg berät und unterstützt. Das Projekt existiert seit 1998 und wird seit Juli 2001 über das Bundesprogramm Civitas gefördert.

Mehr als die Hälfte der vom Verein Opferperspektive betreuten Opfer sind Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Daher sind wir auch mit bestimmten ausländerrechtlichen Regelungen befasst, sofern sie Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit von Opfern rechtsextremer Gewalt haben. Die so genannte Residenzpflicht, also die Bestimmungen des Asylverfahrensgesetzes bezüglich der räumlichen Beschränkung der Aufenthaltsgestattung nach § 56 ff. AsylVfG, ist eine der Regelungen mit erheblichen Auswirkungen. Im Folgenden wollen wir das anhand einiger Fallbeispiele aus unserer Beratungspraxis darstellen.

Wir betrachten dabei das Gesamt von ineinander greifenden Bestimmungen der Residenzpflicht: die Zuweisung von Wohn- und Aufenthaltsort nach § 56 AsylVfG, die Umverteilung nach § 60 AsylVfG , die Ausnahmegenehmigungen zum vorübergehenden Verlassen des zugewiesenen räumlichen Bereichs nach § 58 AsylVfG, die Ordnungswidrigkeits- und Strafbestimmungen bei Verstößen nach § 85 f. AsylVfG. Die Darstellung erfolgt im Hinblick auf Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Betroffenen sowie auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Asylbewerberinnen und -bewerbern.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewalt

Einer unserer ersten Fälle war ein sudanesischer Asylbewerber, der im März 1998 in Lauchhammer im Landkreis Oberspreewald-Lausitz von einer Gruppe rechtsextrem orientierter »Biker« angegriffen und schwer verletzt worden. Omer F. wurde mehrere Tage mit Platzwunden am Kopf, ausgeschlagenen Zähnen und Prellungen am ganzen Körper stationär behandelt. In der Folgezeit entwickelte er Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Durch unsere Vermittlung begab er sich in eine auf die Behandlung von Traumaopfern spezialisierte Einrichtung nach Berlin. Für jede der wöchentlichen Fahrten nach Berlin musste ein so genannter Urlaubsschein, also eine Genehmigung der Ausländerbehörde zum vorübergehenden Verlassen des Landkreises, beantragt werden. Die ihn behandelnde Psychiaterin stellte in einer ärztlichen Stellungnahme fest, dass Herr F. zu seiner psychischen Genesung eine sichere Umgebung bedarf. Denn Herrn F.s subjektives Sicherheitsempfinden in Lauchhammer war wegen der Traumatisierung empfindlich gestört. Aus Angst, den Angreifern oder anderen Mitgliedern der Biker-Gruppe wieder zu begegnen, verließ er das Heim nicht mehr. Zum Einkaufen oder bei Arztbesuchen in Lauchhammer wurde er vom Heimleiter begleitet. Die Psychiaterin hielt deshalb eine Umverteilung von Herrn F. an einen sicheren Ort für notwendig. Dieser Ort sollte außerdem nicht zu weit von der Therapieeinrichtung entfernt sein.

Bei der zuständigen Ausländerbehörde wurden Anträge auf Umverteilung in andere Heime im Umland von Berlin und nach Berlin direkt gestellt, der erste Antrag kurz nach dem Überfall. Alle Anträge wurden abgelehnt. Über eine Rechtsanwältin klagte Herr F. gegen diese Entscheidungen vor dem Verwaltungsgericht. Im Dezember 1999, mehr als anderthalb Jahre nach dem Überfall, entschied das Berliner Verwaltungsgericht per einstweiliger Verfügung, dass einer vorläufigen Umverteilung stattzugeben sei. In der Zwischenzeit war Herr F. gezwungen, sich in einer für ihn unsicheren Umgebung aufzuhalten. Die wiederholten Ablehnungen von Umverteilungsanträgen erlebte er als ein Auf und Ab von Hoffen und Enttäuschung, die sich bis zu einer schweren Depression steigerte.

Das Fallbeispiel zeigt, dass die Behördenpraxis der Ablehnung von Umverteilungsanträgen für ein Opfer rechtsextremer Gewalt u.U. eine Härte bedeuten kann, die eine Genesung von einer erlittenen Traumatisierung erheblich behindert, wenn nicht gar ausschließt.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Dieses Fallbeispiel enthält noch einen weiteren Aspekt der Auswirkungen der Residenzpflicht. Die Zuweisung des Wohnorts für Asylbewerber nimmt keine Rücksichten auf soziale Beziehungen außerhalb der Kernfamilie. Der soziale Zusammenhalt ethnischer Communities wird so behindert. Besuche zu Landsleuten in andere Landkreisen oder Bundesländern werden oft nicht genehmigt. Im Fall von Herrn F. führte es dazu, dass er als einziger Sudanese im Heim in Lauchhammer aufhielt. Nur während seiner Aufenthalte in Berlin, die ihm für die therapeutische Behandlung genehmigt worden waren, konnte er soziale Beziehungen zur sudanesischen Community aufbauen. Ein solches soziales Umfeld, das Unterstützung und Orientierung gewährt, ist jedoch für eine psychische Stablilisierung nach einer Traumatisierung erforderlich.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Ein weiterer Aspekt ist die Behinderung des Rechts auf Religionsausübung. Ein anderer von uns betreuter Asylbewerber, der Pakistani Khalid M., war in der Sylvesternacht 2000 in Rathenow im Landkreis Havelland von rechtsextrem orientierten Jugendlichen zusammengeschlagen worden, wobei er zwei Schneidezähne verlor und eine schwere Traumatisierung davontrug. Für eine psychische Stabilisierung war es für ihn wichtig, jeden Freitag in der Moschee bei Landsleuten zu beten. Doch im Landkreis Havelland wie in den meisten ländlichen Landkreisen existieren keine Moscheen. Daher musste er, bevor er umverteilt wurde, jede Woche für die Fahrt nach Berlin zur Moschee einen Urlaubsschein beantragen, der ihm auch ausgestellt wurde. Diese Praxis ist jedoch nicht die Regel. Im Landkreis Havelland wurde die Ausstellung von Urlaubsscheinen für den Besuch einer Moschee in Berlin im Dezember 2001 eingestellt mit Auswirkungen auf alle moslemischen Asylbewerber im Landkreis.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

In der Praxis wird die Wahrnehmung weiterer Rechte behindert. Zwar sollen nach § 58 Abs. 2 AsylVfG für den Besuch von Beratungsstellen für Asylbewerber Urlaubsscheine bewilligt werden, in der Behördenpraxis wird das jedoch oft verweigert. So stellt z.B. die Ausländerbehörde des Landkreises Greiz in Thüringen keine Urlaubsscheine für den Besuch bei der im benachbarten Gera befindlichen Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt, ABAD, aus. Aus anderen Orten wurde uns von Behinderungen der freien Arztwahl berichtet.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Kulturelle Rechte werden behindert. Für viele Asylbewerber ist es der Zugang zu Lebensmitteln aus ihren Herkunftsländern nicht möglich, da entsprechende Geschäfte nur in größeren Städten vorhanden sind.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

So erließ z.B. das Innenministerium Brandenburg im April 2000 einen Runderlass an die brandenburgischen Ausländerbehörden, für den Besuch einer bestimmten politischen Veranstaltung in Jena keine Urlaubsscheine zu bewilligen. In Jena fand vom 20. April bis zum 1. Mai 2000 ein Kongress von Flüchtlingsselbsthilfegruppen statt, auf dem auch über die Residenzpflicht debattiert wurde. Für die unerlaubte Teilnahme an jenem Kongress wurde der Asylbewerber Cornelius Yufanyi strafrechtlich verfolgt.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Die Residenzpflicht führt zu Kriminalisierung einer großen Zahl der Asylbewerber und wird als rassistische Diskriminierung erlebt. Das zeigt ein Fall aus unserer Beratungspraxis. Der vietnamesische Asylbewerber Tang wurde im Mai 2000 in Eisenhüttenstadt von rechtsextrem orientierten Jugendlichen zusammengeschlagen. Er leidet heute noch an den Folgen, vor allem an einem durch eine posttraumatische Belastungsstörung bedingten Rückenleiden. Für die Fahrten aus Brandenburg nach Berlin zu seiner Rechtsanwältin – Herr Tang besaß eine Aufenthaltsgestattung, die für das ganze Land Brandenburg gültig war – musste jedes Mal ein Urlaubsschein beantragt werden. Herr Tang war jedoch aufgrund seiner Traumatisierung nicht selbstständig in der Lage, diese Anträge bei der zuständigen Ausländerbehörde in Senftenberg zu stellen. Daher hielt er sich wiederholt ohne Genehmigung in Berlin auf, auf dem Weg zu seiner Anwältin oder zu Ärzten. Wiederholt wurde er dabei von der Polizei kontrolliert und festgenommen. Nur durch Intervention seiner Rechtsanwältin wurde ihm das Bußgeld wegen der begangenen Ordnungswidrigkeit erspart.

Die Erfahrung von Herrn Tang ist jedoch typisch für die meisten Asylbewerber. Häufig werden sie von der Polizei in Hinblick auf mögliche Verstöße gegen die Residenzpflicht kontrolliert. Viele Asylbewerber berichten uns, dass sie diese Kontrollen als willkürliche Schikanen erleben. Es ist z.B. von der Situation die Rede, dass auf einem sehr belebten Bahnsteig nur diejenigen Personen kontrolliert werden, deren Aussehen von den Beamten als nicht deutsch wahrgenommen wird. Die Deutschen werden in der selben Situation nicht kontrolliert. Die öffentlich durchgeführte Kontrolle, manchmal verbunden mit einer vorübergehenden Festnahme und dem Abführen, wird als eine diskriminierende und erniedrigende Behandlung erlebt. Als beschämend wird der durch die Kontrolle ausgedrückte Tatverdacht empfunden.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Die Polizeikontrollen von Ausländern, die zu einem erheblichen Teil zur Durchsetzung der Residenzpflicht durchgeführt werden, tragen damit zu einer öffentlichen Stigmatisierung bei, gerade durch die Verknüpfung von ausländischem Aussehen mit einem Kriminalitätsverdacht. Es ist davon auszugehen, dass das im rassistischen Einstellungskomplex virulente Klischee über kriminelle Ausländer durch diese öffentliche Polizeipraxis z.T. bestätigt und verfestigt wird. Es scheint daher gerechtfertigt, von bestimmten rassistischen Effekten der Residenzpflicht zu sprechen.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Die häufigen negativen Erfahrungen mit Polizeikontrollen führen zu einem Bild von der deutschen Polizei, die weniger als Garant von Schutz und Sicherheit, sondern als eine fremde, willkürliche Macht gesehen wird. In Einzelfällen kann dieses negative Bild von der Polizei dazu führen, dass nach einem rechtsextremen Angriff aus Mangel an Vertrauen in die Polizei keine Anzeige gestellt wird. Die Grauzone nicht angezeigter und verfolgter rechtsextremer Übergriffe expandiert.

Auswirkungen der Residenzpflicht auf Opfer rechtsextremer Gewal

Das Gesamt der Einschränkungen von Rechten durch die Residenzpflicht fügt sich im Zusammenspiel mit anderen asylverfahrensspezifischen Einschränkungen zu einer umfassenden Diskriminierungserfahrung. Eine Integration von Asylbewerbern im laufenden Verfahren, das in der Regel mehrere Jahre dauert, wird so erheblich behindert. Es ist davon auszugehen, dass die sichtbare Existenz einer nicht integrierten Bevölkerungsgruppe, den Asylbewerbern, rassistische Effekte auf die Einstellung von Deutschen gegenüber Ausländern hat. Das hängt damit zusammen, dass die Figur des Asylbewerbers im rassistischen Diskurs einen zentralen Platz einnimmt: die gesetzliche Tatsache, dass Asylbewerber weniger Rechte haben, wird dahin übersetzt, dass sie als Menschen minderwertig sind.

Ohne Integrationsanstrengungen auch für die Gruppe der Asylbewerber ist eine wirkungsvolle Bekämpfung rassistisch geprägter sozialer Verhältnisse nur schwer vorstellbar. Erforderlich ist dabei u.a. die Aufhebung der Residenzpflicht als wesentliches Integrationshindernis.

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