»N-Wort Schlampe!«

Marzahn (Foto: Kontraste)
Marzahn (Foto: Kontraste)

Ein einziges dieser Wörter kann den Erfolg einer ganzen Woche in Frage stellen, kann alles anzweifeln, was ich bis dahin geschafft habe, denn obwohl ich weiß, dass ich kein »Stück Dreck«, kein »Stück Scheiße« und auch keine »N-Wort Hure« bin, komme ich nicht gegen die Gewalt dieser Begriffe an, die sich in mein Innerstes graben und Stück für Stück mein eigenes Bild von mir als Menschen demontieren wollen.

Manchmal, wenn ich nicht genügend Kraft habe, mich diesem Prozess zu widersetzen, kapituliere ich und lasse es zu, dass solche Wortsplitter ohne Gegenwehr bis zum Kern meiner Persönlichkeit gleiten können und sich dort festsetzen. Ich hasse mich dafür: für jeden Moment der Schwäche, des sich Ergebens, des sich Unterordnens.

Aber manchmal bin ich ganz einfach zu erschöpft.

Blicke und Gesten können noch vernichtender sein. Dem dabei herrschendem Schweigen, in dem soviel Anklage liegt, kann ich mich nicht entziehen, denn es baut sich wie eine riesige Wand vor mir auf, für deren Überwindung meine Kräfte nicht reichen würden. So steh’ ich dann immer ein wenig verloren vor dieser Wand und starre sie an – solange bis ich aus dieser Erstarrung von den anderen erlöst werde, bis sie also wieder die alltäglichen Gespräche anfangen: von Kinofilmen, Nagellack und Beziehungsproblemen.

Sie wenden sich einfach den ganz normalen Themen zu, die einem in einer ganz normalen Welt an einem ganz normalen Tag beschäftigen.

Und ich habe zur gleichen Zeit damit zu tun, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich auch dazugehöre, dass ich mich nicht für meine Existenz rechtfertigen und für mein »Sein« nicht schämen muss. Und trotzdem – jedes Mal, wenn ich diese Wand wieder einmal hinter mir lassen kann, dann weiß ich doch, dass sie ein Stück weit Recht haben, wenn sie in mir die Fremde oder den Eindringling sehen, denn für sie werde ich nie etwas anderes sein.

Aber ich muss es den anderen und ich muss es auch mir beweisen: dass ich genauso gut, vielleicht sogar, dass ich besser bin.

Daher wird zum Beispiel das Einsteigen in die Straßenbahn an manchen Tagen zur Qual. Wenn ich erst einmal drin bin, dann habe ich es geschafft, dann ist das Schlimmste überstanden. Aber bis dahin ist es oft ein elendig langer Weg – auch wenn es nur drei Stufen hochzusteigen gilt.

Als Kind hatte ich unglaubliche Angst davor, etwas falsch zu machen und möglicherweise zu stolpern. Sprüche wie »Die sollten mal laufen lernen«, haben mich in meiner Angst immer nur bestätigt.

Die abtastenden Blicke, das Gefühl, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, und mein Wissen darum, dass einige Leute tatsächlich nur darauf warten, dass ich ihre verqueren Vorstellungen vom »geistig unterbemittelten N-Wort« bestärke, machen mir in der Öffentlichkeit mein Auftreten zu einem stressbeladenen Unterfangen, dessen Gelingen oder Fehlschlagen ganz allein von meiner Aufmerksamkeit abhängt. Beinahe jede meiner Bewegungen, jede Geste, jedes mimische Zucken ist einstudiert, und die Konsequenzen meines Tuns sind über die Jahre hinweg von mir nun zum größten Teil einkalkulierbar. Nur so habe ich das Gefühl, Kontrolle über die jeweilige Situation zu haben und dem Druck der feindseligen Blicke einiger Mitmenschen standhalten zu können.

Das ist für mich zur einzigen Taktik geworden, das Tuscheln hinter meinem Rücken, die Fingerzeige und das Kichern Pubertierender, das Naserümpfen Älterer und das hämische Grinsen Jugendlicher, von dem ich nie weiß, was dem folgen wird, einigermaßen gut zu überstehen. Im »Dinge überstehen« bin ich inzwischen ziemlich gut.

Als ich noch jünger war, fiel es mir ungemein schwer, mit verbalen und non-verbalen rassistischen Attacken so umzugehen, dass sie mich nicht Tag und Nacht beschäftigten.

Das ist auch verständlich, denn sie brachen nach der Wende so unvermittelt in meine »Alles-wird-gut-Kinderwelt« ein, dass ich gar keine Zeit hatte zu lernen, wie man mit den »Bösen« umgeht, damit sie nicht noch »böser« werden. Natürlich gab es auch zu DDR-Zeiten Rassismus – der Unterschied war nur, dass er sich mehr im Stillen abspielte. Man flüsterte mir eher bestimmte Begriffe zu, anstatt sie mir entgegenzuschleudern, die Ungleichbehandlung steckte im Augenblick und es gab in bestimmten Gegenden auch keinen offenen Konsens darüber, dass gewisse Leute hier nicht zu billigen seien. Plötzlich jedoch wurde Rassismus gesellschaftsfähig, und ich war im Alltag mit ihm konfrontiert.

Das war ein Schock und ist es noch immer. Von heut’ auf morgen befand ich mich in einer Schule, in der ich für den Großteil meiner Mitschüler der erklärte Feind war.

In den Stunden wurden bei fast jeder meiner Meldungen mit Zwischenrufen kommentiert. Als wir im Geschichtsunterricht den Nationalsozialismus behandelten, machte man Witze über das Schicksal meiner »Artgenossen« im damaligen Deutschland und bedauerte in meiner Gegenwart, wie schade es doch wäre, dass bestimmte Tötungspraktiken nicht mehr angewendet würden. Man streute Reißzwecken auf meinen Stuhl, postierte Stinkbomben unter meinem Tisch. Hinter meinem Rücken wurden Zettelchen mit fiesen Sprüchen über mich verteilt, unzählige Male wurde mir ein Bein gestellt, wurde ich auf der Treppe geschubst oder getreten. Und einmal versuchten sechs ältere Jungen sogar meine Jacke anzuzünden – als ich sie noch anhatte. Sie wollten herausfinden, ob ich wohl noch brauner werden könnte.

Die Reaktion meiner Lehrer macht mich auch heute noch wütend, denn sie taten nichts.

Alles, was sie mir gegenüber äußerten, war, ich solle nicht so empfindlich sein – das würde sich schon legen. Sie versuchten die ganze Angelegenheit unter den Tisch zu kehren. Sie nahmen die Äußerungen meiner Mitschüler nicht ernst. Vielmehr forderte man von mir Verständnis ein. Sie waren unfähig zu erkennen, welches Signal sie meinen Mitschülern damit gaben: Man erklärte mich für vogelfrei.

Ich bin das Verhalten dieser »Nichts-Sehen/Nichts-Hören/Nichts-Sagen Affen« satt. Gleichzeitig bin ich verärgert, dass ich nicht auch wegschauen und weghören kann. Ich will mich auch einmal nicht zuständig fühlen. Ich will auch einmal an das »Es ist schon nicht so schlimm Märchen« glauben können.

»Es ist schon nicht so schlimm.« – purer Hohn. Ein nasser Waschlappen, den man mir ins Gesicht schleudert.

1997 haben mich 15 Skinheads in einem S-Bahnwaggon zusammengeschlagen, und niemand der Unbeteiligten hat mir geholfen. Es war im Herbst an einem Freitag um 21.26 Uhr, und der erste Schlag muss mich um 21.28 Uhr getroffen haben, denn sie kamen, kurz nachdem die S-Bahn eingetroffen und ich eingestiegen war. Ich wollte mich gerade hinsetzen, da wurden alle vier Türen aufgerissen, und an jeder stieg ein kleines Grüppchen von drei bis fünf Mann ein.

Sie grinsten, als sie mich sahen. Sie grinsten, als sie auf mich einschlugen, und auch, als ich versuchte mich loszureißen, bevor die S-Bahn losfuhr. Wahrscheinlich grinsen sie auch jetzt noch, wenn sie an mich und meine Todesangst denken, die mich damals zu einer steinernen Säule erstarren ließ.

Ich wusste sofort, was passieren würde, als ich sie sah. Meine Muskeln spannten sich so sehr an, dass ich meinte, gleich zerbersten zu müssen. Sie umzingelten mich, bildeten einen Ring, aus dem ich nicht mehr entkommen sollte. Den ersten Schlag, der mich im Rücken traf, spürte ich noch. Dann nichts mehr.

Nur noch Stille in mir und das Gefühl, aus jeder körperlichen Schwere entlassen worden zu sein. Es war fast so, als hätte mich der erste Schlag aus meinem Körper herauskatapultiert. Plötzlich gab es eine große Entfernung zwischen mir und denen, deren Geschrei und Gegröle seltsam verzerrt und stark gedämpft zu mir hinüberschwappte – wie ein Strandbesuch, bei dem man die Wellen leise in den Ohren säuseln hört. – Ich wurde auf einmal müde und war bereit, alles bis zum Schluss über mich ergehen zu lassen, obgleich ich mir heute nicht sicher bin, was das denn konkret bedeutet hätte. Dann weiß ich noch, dass unvermittelt Riesenkräfte aus mir herausbrachen, ich alles neben mir zur Seite stieß, eine der Türen aufriss und losrannte. Ich schaute mich nur einmal um, und als ich sie hinter mir sah, rannte ich noch schneller. Ich spürte nachher nicht mehr meine Beine und möchte fast meinen, ich sei ab einem bestimmten Punkt tatsächlich geflogen. Ich wusste, ein nochmaliges Umschauen hätte unweigerlich Stillstand bedeutet.

Irgendwann kam ich bei dem Haus meiner Freundin an, und erst in ihrer Wohnung bemerkte ich, dass ich bei fast jedem Atemzug heftige Schmerzen im Rücken hatte und dass ich mich kaum noch bewegen konnte.

Ich schrie eine halbe Stunde lang, aber nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen der Angst, die es mir unmöglich machte, meine Gedanken in irgendeiner anderen Form zu artikulieren.

Die Täter wurden nie gefasst.

Im August 2000 an einem Nachmittag um ca. 18.45 Uhr bin ich erneut angegriffen worden. Diesmal von fünf Jugendlichen. Ich wurde mit einer schweren Flasche niedergeschlagen – unter ihrem tierischen Gegröle und den neugierigen Blicken mehrer Unbeteiligter, von denen wieder niemand half. Es geschah am selben S-Bahnhof.

Ein Stück Normalität – »Das ist schon nicht so schlimm.«?

Der oben stehende Text erscheint in der Anthologie »Texte gegen Rechtsextremismus«, hg. von Reiner Engelmann, im Arena-Verlag, Würzburg 2001.

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