Verletzt, verarztet – vergessen?

Dass sich die jungen Täter als Vollstrecker einer ressentimentgeladenen Bevölkerung empfinden, ist bekannt. Aber wo wird zur Kenntnis genommen, welche individuellen Folgen die erlebte Aggressivität noch lange nach dem Gewaltexzess hat? Andersherum gefragt: Könnte es sein, dass manches Ressentiment verstummt, wenn die Konsequenzen stärker bewusst würden, unter denen ein Opfer zu leiden hat? Drei von mehreren hundert Fällen können da natürlich nur eine Ahnung vermitteln. Und schon diese drei Beispiele zeigen, dass sich zwischen Opferbiografien zum Teil beträchtliche Unterschiede auftun. Aber eben auch Parallelen, die nach jeder Tat aufs Neue zu beobachten sind.

Abbas Kassem

Das Gespräch mit Abbas Kassem soll in einem Café stattfinden. Normalerweise wäre die Wahl des Treffpunkts unerheblich. Dass der Libanese ein italienisches Lokal anstrebt und dafür einen längeren Fußweg in Kauf nimmt, lässt indes ahnen, wie sich der Flüchtling in Fürstenwalde fuehlt. Eine deutsche Kneipe kommt für Kassem nicht in Frage. Genauer: nicht mehr. Seit dem 25. Juli 1996 ist Fürstenwalde für Abbas Kassem nicht länger die Stadt, die er fünfeinhalb Jahre nach seiner Ankunft gut zu kennen glaubte.

An jenem Abend im Hochsommer letzten Jahres hilft der 29-Jährige im »Orient Imbiss« aus, einem Dönerstand in Sichtweite des Bahnhofs. Plötzlich taucht eine Horde von 20 bis 30 Skinheads auf. Mehrere Glatzköpfe dringen durch die Hintertür ein, traktieren den Libanesen mit Faustschlägen und Stiefeltritten. Kassems Brille splittert, er fällt auf den Boden. Die vorne angreifenden Skins schwingen die Stehtischchen des Dönerstands wie Baseballkeulen und zertrümmern die Vitrinen. Im Matsch von Tomaten, Gurken, Zwiebeln und den Scherben der Salatschüsseln tastet Kassem nach dem Dönermesser mit der 30 Zentimeter langen Klinge. Er springt hoch, schlägt um sich, trennt einem Skin fast die linke Hand ab. Die Glatzen weichen zurück. Kassem hastet aus dem Imbiss und rennt weg.

Nach etwa 20 Minuten kommt ein Streifenwagen der Polizei, die Skins ziehen auf die andere Straßenseite und grölen »Ausländer raus« und »wir kriegen euch alle«. Die Ordnungshüter warten auf Verstärkung, dann wird eingesammelt: Neun Rechtsradikale müssen mit auf die Wache – und drei Libanesen, die ihrem Landsmann zu Hilfe geeilt sind. Abbas Kassem ist zurückgekehrt, auf die Bitte eines Beamten hin kommt er trotz seiner Schmerzen mit, die Polizei braucht ihn als Zeugen. Doch auf der Wache wird er plötzlich nicht mehr als Zeuge, sondern wie ein Tatverdächtiger behandelt. Ohne dass Kassem begreift, wie ihm geschieht, wird er im winzigen »Blutraum«, in den sonst nur einzelne Alkoholsünder geführt werden, an ein Heizungsrohr gefesselt. Die drei anderen Araber sind in dem Kabuff mit je einem Arm an Wandringe gekettet. Ein Arzt erscheint, tastet Kassem kurz ab und erklärt, es könnten zwei Rippen gebrochen sein. Dann geht der Mediziner wieder. Kassem bleibt ans Heizungsrohr gefesselt. Mindestens fünf Stunden müssen er und seine Freunde so ausharren. Erst am nächsten Vormittag kommen sie frei. Im Krankenhaus wird außer Platz- und Schürfwunden eine Rippenprellung diagnostiziert. Mehr als drei Monate habe er Schmerzen gehabt, sagt Kassem, »wenn ich mich nachts einmal falsch gedreht habe, war ich sofort wach. Ich bin fast verrückt geworden.«

Der stämmige Libanese fährt sich mit der Hand durchs kurze, schwarzlockige Haar. »Früher konnte ich in eine Disco gehen, da war ich der einzige Ausländer. Aber ich habe nie Probleme gehabt.« Die Miene des Arabers wirkt noch ernster als sonst. »Fürstenwalde ist schlimmer als Beirut.« Kassem, ein schiitischer Moslem, hat im libanesischen Bürgerkrieg auf Seiten der Kommunisten gekämpft. Trotz der ständigen Todesgefahr habe er dort weniger Angst verspürt, »wir waren 30, 40 Leute, da wurde keiner allein angegriffen. Hier traf es nur mich.« Der Libanese blickt durch seine Brille starr am Gesprächspartner vorbei, »ein Leben mit Angst ist kein Leben.«

Nach den Erfahrungen im Libanon hatte Kassem geglaubt, es könnte nichts Schlimmeres mehr kommen. Dass in Fürstenwalde schon seit Jahren Ausländer überfallen werden, scheint ihm vor jenem 25. Juli nicht besonders nahegegangen zu sein. Er hat die Gefahr nicht auf sich persönlich bezogen – in der Disco pöbelte ihn niemand an, die vielen kurzgeschorenen Jugendlichen kümmerten ihn nicht. Jetzt meidet Kassem die Disco. »Ich habe immer gedacht, ich bin frei, ich kann gehen, wohin ich will, auch mitten in der Nacht. Das geht nicht mehr. Aber ich habe keine Arbeit. Soll ich nun den ganzen Tag zu Hause bleiben?« Wieder fährt die rechte Hand durchs Haar, »jetzt muss ich immer richtig aufpassen. Ich überlege zwei-, dreimal, wohin kannst du gehen.« Der Angriff hat Kassem einen Schock versetzt, von dem er sich nicht erholt. Gleich nach dem Vorfall ist der Libanese erst mal nach Berlin abgetaucht, zu Freunden – obwohl er als Ausländer, dessen Abschiebung nur ausgesetzt ist, Fürstenwalde nicht verlassen darf. Nach vier Wochen traute sich Kassem zurück. Als Erstes suchte er eine Wohnung in der Nähe von Bahnhof und »Orient Imbiss«. Kassem zog aus dem Plattenbauviertel im Süden der Stadt weg, denn dort wohnen viele Skins. Nun lebt er in einer Wohnung im Zentrum. Kassem muss jetzt auf eine Zentralheizung verzichten, aber er fühlt sich etwas sicherer. Doch jeder neue Überfall auf Ausländer in Fürstenwalde jagt ihm noch mehr Angst ein, auch wenn er den Tätern von damals auf der Straße nicht mehr begegnet ist. Seit dem Angriff auf den »Orient Imbiss« hat die Polizei nahezu jeden Monat mindestens einen weiteren Vorfall registriert. In der rechten Szene geht die Parole um: »Wir machen Fürstenwalde dönerfrei.«

Die Angst wird noch ergänzt durch Demütigung. Da sind nicht nur die schikanöse Behandlung auf der Polizeiwache, das Fehlen jeglicher Anteilnahme von Bürgermeister und Stadtverwaltung sowie die unverhohlene Sympathie in Teilen der Bevölkerung für Skins und Rechtsradikale. Ähnlich wie viele Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung werden, fühlt sich Kassem in dem seit März laufenden Prozess gegen drei der Angreifer erneut misshandelt. »Die Verteidiger haben gesagt, als meine Brille kaputt war, hätte ich ja gar nicht mehr sehen können, wer mich geschlagen hat.« Der Libanese erregt sich, »ich kam mir vor, als sei ich der Täter und nicht der Zeuge.« Wenn Kassem könnte, würde er sofort in den Libanon zurückkehren. Aber er kann nicht. Der syrische Geheimdienst, seit dem Ende des Bürgerkriegs im Land der Zedern allmächtig, hat ihn mit Morddrohungen aus der Heimat getrieben. Kassems Frau kam 1991 nach, musste aber 1992, im dritten Monat schwanger, nach Ablehnung ihres Asylantrags die Bundesrepublik verlassen. Kassems Tochter ist vier Jahre alt, er hat sie noch nie gesehen, »das tut weh«. Wie es mit ihm weitergehen soll, weiß er nicht. Der Traum von einem Kellnerjob in Berlin kann sich nicht erfüllen, solange Kassem in Fürstenwalde bleiben muss. Aber er wehrt sich dagegen, zu resignieren. Es steckt auch zu viel Wut in ihm. »Wenn die Skins noch mal was machen,« die Stimme stockt ganz kurz, »dann muss ich ihnen selber die Strafe geben.«

Klaus Baltruschat

Ein typisch deutsches Wohnzimmer: dicker, gemusterter Teppichboden, eine Schrankwand, darin ein großer Fernseher und säuberlich aufgereihte Videobänder, ein Aquarium mit Goldfischen, zwei Tische mit Spitzendeckchen. In der wuchtigen Sofalandschaft sitzt Klaus Baltruschat. 62 Jahre alt, untersetzt, gekleidet in eine dunkelblaue Jogginghose und ein graues Polohemd. Er würde sich von den Millionen deutscher Mitbürger, die zu so einem Wohnzimmer gehören, kaum unterscheiden, hätte sein Polohemd lange Ärmel. Doch die Ärmel sind kurz. Wo der linke endet, folgt gleich hinter dem Ellbogen ein Stumpf. Mit einer breiten Fläche Schorf. Unterhalb vom rechten Ärmel ist eine lang gestreckte Narbe zu sehen. An der Hand fehlt der kleine Finger. »Versuchen Sie mal, mit einer Hand ‘ne Stulle zu schmieren,« sagt Baltruschat, »die rutscht Ihnen weg. Versuchen Sie mal, die Zahnpasta aufzudrehen und auf die Bürste zu kriegen. Oder ganz einfach: Versuchen Sie mal, die Hände zu waschen.«

19. Februar, 9 Uhr 15. Klaus Baltruschat hat gerade seine kleine Buchhandlung im Berliner Bezirk Marzahn betreten. Da hört er Schritte im Hausflur. »Ich will mich umdrehen und sagen: Wat möchten se?« erzählt Baltruschat. »Aber ich komm’ gar nicht dazu, wat zu sagen. Da steht der Vermummte in der Tür, mit der Waffe in der Hand, und schießt los. Nicht mal drei Meter entfernt.« An mehr kann sich Baltruschat nicht erinnern. Sofort nach den Schüssen aus einer Pumpgun flieht der Täter. Schon vier Tage später wird bei einem zweiten Verbrechen bekannt, wer da um sich schießt: Auf einem Parkplatz an der Autobahn Berlin – Hamburg tötet der Berliner Neonazi Kay Diesner einen Polizisten und verletzt einen weiteren schwer, wahrscheinlich mit demselben Schrotgewehr wie bei dem Anschlag in Marzahn. Der 24-Jährige wird überwältigt, spricht dann von »Notwehr« und gibt sich als Mitglied des »Weißen Arischen Widerstands« aus. Über Nacht gilt rechtsextremer Terrorismus in der Bundesrepublik nicht mehr als fiktive, sondern durchaus reale Gefahr.

Baltruschat wird nach knapp vier Wochen aus dem Krankenhaus in seinem Heimatbezirk Köpenick entlassen. Es drängt ihn, seinen Buchladen aufzusuchen. »Ich bin den gleichen Weg gegangen wie an diesem einen Morgen. Ich habe aufgeschlossen, bin zum Schreibtisch, habe mich umgeguckt – ob der Täter noch an der Tür steht. Er war nicht da. Erst da war das ständige Vor-Augen-Haben des Täters endlich weg. Bis dahin konnte ich mir meine Bürotür nicht anders vorstellen, als dass der da steht.«

Dieses Trauma musste Baltruschat alleine bewältigen. Gegen die anderen psychischen und physischen Verletzungen hilft vor allem die enorme Anteilnahme, die dem Buchhändler und seiner Frau aus ihrer Partei, der PDS, aber auch aus Teilen der Bevölkerung zuteil wird. Die PDS-Granden Gregor Gysi und Lothar Bisky besuchen ihn am Krankenbett, seine »Mädels« vom Handballklub Ajax Köpenick kommen beinahe täglich vorbei. Als er wieder in der Turnhalle steht, mit nur einer, ramponierten Hand, sagt eine 12-Jährige: »Hinter Dir stehen 100 Hände.« Baltruschat blickt an die Wohnzimmerdecke, »das ist schon ein Antrieb, die neuen Lebensumstände zu meistern.« Aber er tut sich schwer, obwohl er seit 27 Jahren die Ajax-Jugend trainiert: »Ich habe Hemmungen, weiterzumachen. So wie ich aussehe, wirke ich doch auf ‘ne 10-Jährige wie ein Monster. Diese Schwelle habe ich noch nicht überwunden.«

Der Frage nach Gefühlen der Angst weicht Baltruschat aus – obwohl er Anfang März einen Drohbrief bekommen hat, der mit »Weißer Arischer Widerstand« unterzeichnet war. »Ich mache mit meiner politischen Arbeit weiter.« Pause. »Soll ich aufgeben? Soll Diesner sein Ziel erreicht haben? Dann hätte Terrorismus ja eine Berechtigung.« Baltruschat leitet weiterhin die 30-köpfige »Basisorganisation« der PDS im Köpenicker Viertel Spindlersfeld. Doch seit dem Attentat ist ein Thema hinzugekommen. »Wir haben Neonazis früher nicht so ernst genommen,« Baltruschat nickt, als wolle er sich selbst bestätigen. »Wie gefährlich solche Gruppen sind, musste ich erst am eigenen Leib verspüren.« Nun will Baltruschat »an Jugendliche herankommen. Es wird ja keiner als Nazi geboren. In den Köpfen spiegelt sich doch wider, was es an gesellschaftlichen Widersprüchen gibt.« Da nimmt er auch die DDR nicht aus. »Eigentlich habe ich erst jetzt erfahren, dass es auch damals schon Rechtsextremismus gegeben hat. Das war wohl wegen der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Sozialismus.«

Den Baltruschat im Prinzip weiterhin als das bessere Gesellschaftskonzept ansieht. 1950 ist er mit seiner Familie vom Westberliner Bezirk Spandau in den Ostteil der Stadt umgesiedelt. »Da konnte mein Vater seinen Traum verwirklichen. Er war Arbeiter und hatte hier die Chance, Berufsschullehrer zu werden.« Der Sohn brachte es zum Mitarbeiter mit Westkontakten und -reisen im DDR-Ministerium für Hochschul- und Fachschulwesen. Die Mitgliedschaft in der SED, dann PDS, erscheint selbstverständlich. Doch über seine Biografie will Baltruschat nicht so gerne sprechen, »was hat das mit dem Anschlag zu tun?«

Er fasst sich mit der rechten Hand an den linken Oberarm, »mir ist etwas anderes wichtig: Ich will keine politische Rache.« Er empfinde keinen Hass auf Kay Diesner. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich reagieren werde, wenn der Prozess kommt und ich steh’ dem gegenüber.« Der Mann in dem gemusterten Sofa wirkt etwas überfordert. Er muss den Phantomschmerz in seinem linken Arm verkraften, und scheinbar einfache Handreichungen sind zu trainieren. Die Woge der Solidarität mit 230 Briefen und zahllosen Anrufen muntert auf, strengt aber wohl auch an, ebenso der Medienrummel. Dass Opfer rechtsextremer Gewalt meist kaum Aufmerksamkeit erhalten, ist Baltruschat bewusst. Ob dies ein Thema seiner politischen Arbeit werden könnte? »Das ist ‘ne Überlegung, die ich noch nicht gemacht habe. Ich weiß nicht, ob ich dafür noch Freiräume habe.« Baltruschat lehnt sich zurück, »jetzt fahr’ ich erst mal für vier Wochen in Kur und hoffe, zur Normalität des Lebens zurückzufinden.«

Orazio Giamblanco

Frühling im Weserbergland. Die Aprilsonne scheint auf eine wellige, grüne Hügellandschaft, vereinzelt blühen schon Obstbäume. Die Region südwestlich von Hannover strahlt Ruhe aus, die Dörfer zwischen den ausgedehnten Feldern scheinen alle mal einen Verschönerungs-Wettbewerb gewonnen zu haben. Am Rande einer dieser Fachwerkidyllen findet sich ein größeres Anwesen. Die alten, gepflegten Gebäude wirken wie ehemalige Gutshäuser, an denen nun ein paar nüchterne Neubauten kleben. Hier, am Ende des Dorfes Coppenbrügge, ist eine neurologische Spezialklinik untergebracht. Sie trägt den Namen »Krankenhaus Lindenbrunn«. Was so adrett klingt und aussieht, ist jedoch ein Ort, an dem einem Besucher das Lachen vergeht.

Vor dem Eingang sitzen zwei ältere Männer in Rollstühlen und genießen stumm die Sonne. Für einen der Patienten in »Lindenbrunn« wäre selbst dies eine Qual. Orazio Giamblanco verträgt nicht mehr als normale Zimmerwärme und erst recht kein Sonnenbad. »Dann muss ich brechen«, sagt der 56 Jahre alte Italiener mit kaum hörbarer Stimme. Das Gefühl von Bedrängung bei erhöhter Temperatur ist für den verkrüppelten Mann im Rollstuhl allerdings nur eine, schwächere Folge jener Ereignisse, die sich am Abend des 30. September im Brandenburgischen Trebbin abgespielt haben. Giamblanco hat gerade von einer Telefonzelle aus mit seinen Angehörigen in Italien gesprochen. Der Sizilianer und zwei seiner Landsleute, Bauarbeiter wie er, wollen zurück in ihre Unterkunft. Plötzlich halten neben ihnen mit quietschenden Reifen zwei Trabants. Skinheads springen heraus, rufen »Seid ihr Italiener?« Bevor die Bauleute etwas sagen können, werden sie mit Baseballkeulen traktiert. Giamblanco wird am Kopf getroffen und sinkt bewusstlos auf den Bürgersteig. Die Schläger springen in ihre Autos und rasen weg. Giamblancos Begleiter krümmen sich vor Schmerzen. Doch sie schaffen es, ihren leblosen Kollegen ins Krankenhaus zu bringen.

18 Tage liegt Giamblanco auf der Intensivstation der Klinik im nahen Luckenwalde. Mit zwei Operationen gelingt es den Ärzten, seine Hirnblutung zu stoppen. Sie ist lebensgefährlich und wiegt für die Mediziner noch schwerer als die Schädelfraktur, die Giamblanco ebenfalls erlitten hat. Als er aus dem Koma erwacht, sind Arme und Beine, vor allem auf der linken Seite, nahezu taub. Mindestens ein Baseballkeulenhieb hat Giamblanco an der rechten Kopfseite erwischt. Deshalb sind seine linken Extremitäten am meisten betroffen – jede Gehirnhälfte steuert die gegenüberliegende Körperseite.

Auf dringende Bitten seiner Freundin, die in Bielefeld lebt, wird der Italiener Ende Oktober in die ostwestfälische Stadt verlegt. Hier hat Giamblanco 30 Jahre gelebt, bevor er sich auf die Suche nach einem Bauarbeiterjob im Osten Deutschlands begab. Nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit konnte er auf einer Baustelle in Trebbin anfangen. Seine Zementallergie hat er verschwiegen – die Stelle als Hilfsarbeiter war wichtiger. »Gerade drei Tage hat er gearbeitet«, sagt Giamblancos Lebensgefährtin, die 46-jährige Angelica Berdes. Dann kamen die Skins.

Mit erhobenem Kopf, aber schlaffen Armen und Beinen sitzt Giamblanco in seinem Rollstuhl. Der Mann in dem grün-schwarzen Trainingsanzug und den schweren orthopädischen Schuhen blickt starr auf den Besucher. Wenn Giamblanco etwas sagen will, hebt er das Kinn – offenbar eine reflexartige Reaktion auf den Luftröhrenschnitt, der zur künstlichen Beatmung auf der Intensivstation erforderlich war. Nur mit Mühe bringt Giamblanco ein paar Worte heraus. »Jaa, habe nicht mehr Gesundheit … geht mir schlecht … ich war gute Gesundheit, aber jetzt weiß nicht, was kommt.« Ein längerer Satz ist nicht möglich. Aber die braunen Augen haben den Besucher fest im Blick. Giamblancos Augen sagen, was seine Stimme kaum noch auszudrücken vermag.

Am 20. November kommt er in die Klinik am Rande von Coppenbrügge. »Er kann jetzt mit Unterarmgehstütze sehr langsam gehen«, sagt Stationsarzt Stefan Mohr. »Aber Herr Giamblanco braucht noch eine zusätzliche Hilfe. Dann schafft er 20, 30 Meter auf dem Stationsgang.« Den rechten Arm und das rechte Bein kann Giamblanco wieder halbwegs bewegen. Bei den Gliedmaßen der linken Körperhälfte ist die vollständige Lähmung laut Mohr in eine »mittelgradige« übergegangen. Intensive Krankengymnastik soll den Sizilianer in die Lage versetzen, wieder einfache Handreichungen vorzunehmen. Beim »Koordinationstraining« schichtet er Holzringe auf sogenannte Steckbäume. Seine Schuhe kann er bis heute nicht selber anziehen. Auf die Frage, ob Giamblanco wieder genesen wird, reagieren Mohr und Oberarzt Torsten Helberg mit Schweigen. Dann beugt sich Helberg etwas vor, »das ist extremst unwahrscheinlich.« Er zählt auf: Arme und Beine bleiben in unterschiedlichem Maße gelähmt. Giamblanco wird kaum wieder richtig sprechen können. »Seine Konzentrationsschwäche weist auf eine ganz erhebliche Einschränkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit hin.« Mindestens vier Wochen müsse Giamblanco noch in »Lindenbrunn« bleiben. Danach soll er in Intervallen mal in der Klinik, mal bei seiner Freundin in Bielefeld gepflegt werden.

Vor dem Potsdamer Landgericht beginnt morgen der Prozess gegen Jan W. und Francesco H. Die beiden Skinheads, 22 beziehungsweise 18 Jahre alt, müssen sich wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung verantworten. Die Staatsanwaltschaft hofft, Orazio Giamblanco könne als Zeuge aussagen. »Wenn man das Geschehen thematisiert, zeigt Herr Giamblanco heftige emotionale Reaktionen,« berichtet Stationsarzt Mohr, »er ist noch immer stark traumatisiert.« Giamblancos Freundin erzählt, er müsse oft weinen, »Orazio hat keine Kraft.« Außerdem könne er längere Autofahrten nicht ertragen, schon wegen der Wärmeentwicklung im Inneren eines Wagens. Giamblanco selbst reagiert nur matt auf die Frage, was er angesichts des bevorstehenden Prozesses empfinde. »Die hat mir kaputtgemacht«, die Stimme stockt, »Strafe, ja, aber ich habe gar nichts mehr.«

9.000 Mark hat das italienische Konsulat in Berlin bei einer Spendenaktion für Giamblanco eingesammelt. Das Geld wird nicht lange reichen. Seine Freundin hat ihren Job in einer Schokoladenfabrik aufgegeben, um täglich von Bielefeld ins etwa 70 Kilometer entfernte Coppenbrügge fahren zu können. Wie das weitere Leben aussehen soll – daran denkt das italienische Paar lieber nicht. Zum Abschied hebt Giamblanco die rechte Hand und streckt seine kraftlosen Finger vor. Dann rollt ihn die Freundin zurück ins Zimmer. Ein kleiner Ausflug zum Eingang von »Lindenbrunn«, für ein paar Minuten in der Frühlingssonne, ist Orazio Giamblanco nicht zuzumuten.

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