Spendenaufruf für Orazio Giamblanco


Orazio Giamblanco

Orazio kämpft sich durchs Leben

von Frank Jansen

Er ist schmal geworden. Die Wangenknochen treten hervor, der rote Pullover hängt mit Falten an ihm. „Magen ist schlecht“, sagt Orazio Giamblanco. Die Stimme ist nur schwer zu verstehen, aber das ist schon seit 18 Jahren so. Seit jenem Tag im September 1996. Als in Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, ein Skinhead mit seinem Baseballschläger ausholte. Die Keule traf den Italiener mit voller Wucht am Kopf. Es ist fast ein Wunder, dass Giamblanco jetzt, so eingefallen und blass er auch ist, in einem italienischen Restaurant in Bielefeld am Tisch sitzt. Dass er überhaupt noch lebt. Und sagen kann, wie es ihm geht.
Viel erzählen muss er da nicht. Das Bild spricht für sich. Der 73 Jahre alte Mann ist im Elektrorollstuhl in das Restaurant gefahren, bis zum Tisch. Giamblancos Hände, immer leicht gekrümmt, liegen auf den Lehnen des Gefährts. So sitzt er da, meist stumm, das Sprechen strengt an. Doch dann lächelt er.
Seine griechische Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und ihre Tochter Efthimia Berdes zeigen Fotos vom Urlaub auf Sizilien, Orazios alter Heimat. „War sehr gut“, nuschelt er. Auf einem Bild hält er lachend Angelicas Hand, im Garten ihres Hotels in Catania. Die Reise im Mai konnten die drei dank Spenden der Tagesspiegel-Leser finanzieren. Es ging Orazio, wenn man das so sagen kann, gut. „Es war mit dem Magen besser, er hat alles gegessen“, sagt Efthimia. Jetzt im Restaurant in Bielefeld schneidet sie ihm die Spaghetti klein, damit er sie hinunterbekommt. Die Probleme mit dem Magen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Aber das ist nur eine Geschichte im Elend des Orazio Giamblanco und seiner Leidensgefährtinnen, der 63 Jahre alten Angelica und ihrer 40-jährigen Tochter Efthimia. Das Leben der drei ist ruiniert, die Momente der Freude und des Vergessens sind selten.
Der Sizilianer und die beiden Griechinnen sind, sozusagen lebenslang, Opfer rassistischer Gewalt. Ein Schicksal von unzählig vielen. Sie summieren sich zu einem dunklen Kapitel in der Historie der Bundesrepublik. Seit der Wiedervereinigung haben rechte Gewalttäter, folgt man den Statistiken der Polizei, mehr als 10 000 Menschen verletzt und 63 getötet. Nach Recherchen des Tagesspiegels ist die Zahl der Toten noch weit höher.
Seit Anfang 1997 berichtet die Zeitung Jahr für Jahr, wie es Orazio, Angelica und Efthimia geht. Der Kontakt wurde so eng, dass sich die Geschichte heute mit den Vornamen der drei erzählen lässt. Aber es geht nicht um eine traurige Homestory. Die Langzeitstudie über Orazio, Angelica und Efthimia ist ein Versuch, exemplarisch die Folgen rechtsextremen Straßenterrors in Deutschland zu schildern. Über die Tat hinaus. Gegen die Regeln öffentlicher Aufmerksamkeit. Diese geht – manchmal – hoch, wenn ein blutiger Angriff geschieht, und sie kommt noch mal beim Prozess gegen den Täter. Nach dem Urteil ist es vorbei. An den weggesperrten Täter möchte kaum jemand erinnert werden, aber auch das Opfer gerät in Vergessenheit. Trotz seiner Qualen. Als 1996 rechte Gewalt in Deutschland wieder zunahm und die Illusion zerplatzte, nach den Exzessen von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen sei das Schlimmste überstanden, erschien die klassisch aktuelle Berichterstattung zu wenig zu sein, um die humanitäre Katastrophe angemessen zu beschreiben. Der Tagesspiegel zog aus den vielen Fällen, eher intuitiv als geplant, den des Italieners aus Bielefeld heraus. Der nach wenigen Tagen als Hilfsbauarbeiter in Trebbin beinahe totgeprügelt worden war.
Die Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde konnten Orazios Leben damals mit zwei Notoperationen retten. Aber auch danach war sein Zustand so schlecht, dass er 1997 nicht in der Lage war, im Prozess gegen den Täter Jan W. am Landgericht Potsdam als Zeuge aufzutreten.
Durch den Schlag mit der Baseballkeule erlitt Orazio eine spastische Lähmung. Verbunden mit Sprachstörungen, Kopfschmerzen, eingeschränkter Konzentration, Problemen bei der Verdauung, Depressionen. Orazio ist weitgehend auf den Rollstuhl angewiesen, in der Wohnung oder bei der Physiotherapie schlurft er mühsam am Rollator. Für ein paar Schritte mit Krücken, das ging einige Jahre, fehlt ihm jetzt die Kraft. Denn die Probleme mit dem Magen machen ihm zusätzlich zu schaffen. „Ich koche Brokkoli ganz weich, aus Fleisch mache ich Hackfleisch“, sagt Angelica. „Ich weiß nicht mehr, was ich kochen soll. Ich kann Suppe nicht mehr sehen.“
Orazio gibt sich dennoch nicht auf. Woche für Woche lässt er sich vom Fahrdienst des Roten Kreuzes zur Physiotherapie bringen, meist ist Angelica dabei. Im Laufe der Jahre hat er öfter die Einrichtung gewechselt, weil er therapiemüde war, weil er auf neue Behandlungsmethoden hoffte. Mehrere Krankenhäuser und Fitnessstudios in Bielefeld und Umgebung sind Orazio vertraut. In diesem Jahr setzt er sich im Franziskus-Hospital an die Geräte. Im Tiefgeschoss ist ein Studio für Physiotherapie. „Seit drei Monaten ist Herr Giamblanco hier“, sagt Abteilungsleiter Jan Rombowski, „er wird hier aktiv durchbewegt“. Der bullige Mann hilft Orazio, in den Liegesitz einer „Beinpresse“ mit Gewichten zu steigen. Orazio stemmt seine Füße gegen eine Stahlplatte. Die Liege, auf einen Gleitschlitten montiert, bewegt sich nach hinten. Orazio schweigt und schließt die Augen. Rombowski hat seinen Patienten schon vor 15 Jahren gesehen, im Städtischen Krankenhaus. „Leider ist es nicht besser geworden.“ Doch die Therapien seien notwendig „zur Erhaltung der Restbeweglichkeit“.
Efthimia ist mitgekommen zur Physiotherapie. Als Orazio seine Übungen an drei Geräten hinter sich hat, holt Efthimia den Rollstuhl. Sie zieht Orazio eine Strickjacke an und legt ihm einen Schal um den Hals. Als er sich gesetzt hat, hebt Efthimia seine Füße auf die Fußstützen. Dann löst sie die Bremse und schiebt ihn aus dem Studio. Ohne die Frau und ihre Mutter, sagt Rombowski, würde es Giamblanco nicht so gut gehen. Die Worte „so gut“ betont der Therapeut, als sei es eigentlich der falsche Begriff.

Die Tochter ist an Depressionen erkrankt, es war zu viel

Der Begriff würde auch nicht zu Efthimia und der Mutter passen. Efthimia ist vergangenes Jahr an Depressionen erkrankt. Der Stress, neben dem Dreischicht-Job in einer Schokoladenfabrik bei der Pflege des schwerbehinderten Orazio zu helfen, hat sie zermürbt. Efthimia bekam Angstzustände und Wahnvorstellungen, sie fügte sich eine lebensbedrohliche Verletzung zu. Das war im Mai 2013. Sie kam auf eine Intensivstation, blieb wochenlang im Krankenhaus. Es folgten drei Monate Reha, eine Langzeittherapie und eine Kur. „Ich habe gedacht, ich bin stark“, sagte Efthimia vor einem Jahr dem Tagesspiegel. Auch jetzt ist noch zu spüren, dass sie mit sich ringt. Und sich mehr zumutet, als ihr guttut.
Sie fing im Frühjahr dieses Jahres an, wieder zu arbeiten. Voll. Obwohl sie weiß, dass die Depressionen nur unterdrückt sind, mit harten Medikamenten. Aber Efthimia fühlt sich verpflichtet, alles zu geben. Bei der Arbeit, bei der Unterstützung ihrer Mutter, die rund um die Uhr für Orazio da ist. Der in manchen Nächten alle zwei Stunden aufwacht, mit Magenschmerzen. Und dann ins Bad muss. Seine Lebensgefährtin hebt ihn aus dem Bett und geht jeden Schritt mit.
Angelica sieht aus wie die Schwächste der drei. Klein, zerbrechlich, trauriger Blick. Doch Angelica ist die Stärkste. Auch wenn sie seit Jahren zum Psychiater geht, der Blutdruck zu hoch ist und der Rücken schmerzt. Ohne Angelicas Hilfe könnte Orazio nicht in der Wohnung leben und nicht nach Sizilien reisen. Und es war Angelica, die im September Efthimia für vier Wochen nach Griechenland schickte, weil die Tochter endlich auf andere Gedanken kommen sollte. „Ich hab’ jetzt zwei, auf die ich aufpassen muss“, sagt Angelica, „Orazio und Efi“.
Der Mann, der den endlosen Horror verursacht hat, trägt schwer an seiner Schuld. „Wenn ich zur Ruhe komme“, sagt Jan W., „dann denke ich drüber nach“. Der 40 Jahre alte Bauarbeiter, ein kräftiger Kerl, impulsiv, aber auch nachdenklich, bereut den Schlag mit der Baseballkeule. „Wenn man nich’ weiß, wo man hin will, kommt man dahin, wo man nicht hin will“, sagt er. Wo Jan W. nicht hin will, weiß er schon länger. Von den Neonazis wandte er sich bereits im Gefängnis ab. Das Landgericht Potsdam hatte Jan W. im April 1997 zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt. 2002 belastete er frühere Kumpane, die bei der Jagd nach italienischen Bauarbeitern in Trebbin mitgemacht hatten. Die Rechtsextremen kamen allerdings mit milden Strafen davon.
Jan W. hat Orazio und die beiden Frauen um Verzeihung gebeten. 2006 gab er dem Tagesspiegel zwei lange Briefe mit nach Bielefeld. „Mir wird immer wieder vor Augen geführt, dass ich mit meinem damaligen Verhalten und meiner Verantwortungslosigkeit unserer aller Zukunft verbaut habe“, schrieb Jan W. etwas ungelenk. Aber treffend, zumindest was die drei in Bielefeld betrifft. Jan W. selbst hat es geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen. Mit einer kleinen Familie, mit Jobs. 2011 hat er seinen Baggerschein gemacht, so verdient er mehr. Jan W. hat eine Zukunft.
In Bielefeld hoffen sie auf die kleinen Fluchten. Auch im kommenden Jahr möchten Orazio, Angelica und Efthimia nach Sizilien fliegen. Es täte ihnen gut. Er wolle dann wieder den Rollator mitnehmen, sagt Orazio. Auf Sizilien fällt es ihm leichter, damit das Gehen zu üben.

Frank Jansen

 

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