Dankesrede zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille

Die Ossietzky-Preis-Träger
Die Ossietzky-Preis-Träger

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

als wir im September erfahren haben, dass uns die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen werden soll, war unsere Überraschung groß. Fast schämen wir uns, mit Preisträgern wie Erich Fried und Heinrich Böll, aber auch mit Bewegungen wie den sans papiers in eine Reihe gestellt zu werden. Die Ehrung gilt gewiss nicht uns als Personen, das wäre zuviel der Ehre, auch nicht unserem Projekt, das gerade mal aus fünf Mitarbeitern besteht. Wir vermuten stattdessen, die Ehrung gilt dem Prinzip Opferperspektive, sie gilt dem, was unser Projekt symbolisiert.

Uns treffen hohe Erwartungen. Die Botschaft, die aus unserem Projekt herausgelesen wird – und wir sind daran gewiss nicht ganz unschuldig – die Botschaft ist die konsequente Parteinahme auf Seiten der Opfer des Rassismus, der Opfer des Rechtsextremismus. Und statt bloßer Worte praktische Solidarität mit den Opfern, ein Kampf gegen ihre weitere Ausgrenzung.

Hinter uns liegt eine Sommerdebatte zum Thema Rechtsextremismus und rechte Gewalt. Opfer haben in dieser Debatte eine herausragende Rolle gespielt, und nicht erst seit diesem Sommer. Wir erinnern uns an das letzte Jahr, an den Februar, als in Guben rechtsextreme Jugendliche den Algerier Farid Guendoul in den Tod hetzten. Die Boulevard-Zeitungen brachten Farids Foto auf der Titelseite. Daneben die Überschrift »Zu Tode gehetzt, weil er Ausländer ist«. Omar ben Noui wurde portraitiert als »höflicher und charmanter junger Mann«, seine deutsche Freundin erwartete ein Kind. Omar, der gute Ausländer.

Jahre zuvor, als in diesem Land fast jede Woche ein Flüchtlingsheim brannte, hatte dieselbe Zeitung Ausländer, Flüchtlinge ganz und gar anders portraitiert. Der hässliche Ausländer, das war der Asylant, der auf deutschen Schulhöfen mit Heroin dealt. Der Asylant, ein Teilchen in der bedrohlichen Asylanten-Flut. Berichte über rassistische Gewalttaten waren knapp gehalten. Die Perspektive der Opfer interessierte nicht. Hingegen wurde den Tätern viel Verständnis entgegengebracht.

Einfühlsam wurden ihre Lebensumstände durchleuchtet, und man sah sie, die Täter, als die eigentlichen Opfer. Opfer der Wende, Opfer der Orientierungslosigkeit, der Arbeitslosigkeit oder der Modernisierung. Die Täter wurden zu »unseren Kindern«. Die rassistische Gewalttaten doch nur ein »Schrei nach Liebe«.

Heute hat sich der Blick auf die Täter in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit gewandelt. Es wird nur noch festgestellt, dass die Mörder keine Einsicht, keine Reue zeigen. Die moralische Empörung über die Gewalt und über die Täter ist groß. Aber auffällig ist, dass in der Debatte die Frage nach den Ursachen der rassistischen Gewalt nur eine Nebenrolle spielt. Von der Betroffenheit und Empörung wird umstandslos zur Frage »Was tun?« übergegangen. Abgesehen von der diffusen Formel, der Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. In weiten Teilen der Debatte scheint die Frage nach Ursachen und gesellschaftlichen Zusammenhängen überflüssiger Ballast.

Es scheint, dass die Geschichten der Betroffenen, ihre Erfahrungen mit rassistischer Gewalt, die Traumatisierung, unter denen sie leiden, dass das eines der wenigen Themen ist, die noch breite öffentliche Empörung hervorrufen. Die unerträglichen Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Ungetüme wie das Asylbewerberleistungsgesetz, sind hingegen fast kein Thema. Wieder werden Menschen reduziert auf ihr Opfer-sein, diesmal als Opfer rassistischer Gewalt auf der Straße.

Dabei öffnet gerade die Perspektive der Betroffenen den Blick für weitere Zusammenhänge über die unmittelbare Gewalt hinaus. Auf alltägliche Begebenheiten, ohne Gewalt. Eine Kleinstadt in der Nähe von Berlin. Eine Kindergartengruppe begegnet einem Afrikaner. Ein Kind fängt an zu heulen. Die Kindergärtnerin herrscht den Afrikaner an: »Siehst du nicht, dass du dem Kind Angst machst? Verzieh dich!« Ohne Gewalt, aber getragen von den selben Ressentiments und mit der selben Wirkung wie ein Schlag ins Gesicht. Die Botschaft von der Minderwertigkeit und Rechtlosigkeit, die Botschaft von Ausgrenzung und Vertreibung kommt auch ohne Gewalt an.

Ein anderer Zusammenhang besteht mit der institutionalisierten Form des Rassismus. Die Botschaft der Rechtlosigkeit, die Praxis der Ausgrenzung, das erfahren Flüchtlinge allerorts von Behörden. Doch noch mehr als das: Die rechtliche Diskriminierung und die rechte Gewalt auf der Straße greifen ineinander. Bestimmte Gruppen von Ausländerinnen und Ausländern werden zu Anschauungsobjekten rassistischer Vorurteile gemacht: So stellt die hohe Ablehnungsquote im Asylverfahren Flüchtlinge pauschal unter Betrugsverdacht. Sie durften bisher nicht arbeiten, erscheinen also als Menschen, die »vom Steuerzahler durchgefüttert« werden. Ihre Rechtlosigkeit fördert die Konstruktion einer ethnischen Hierarchie. Für Rassisten geht es Flüchtlingen immer zu gut. Ihre Reaktion sind Ressentiments und Gewalt. So sind es die Asyl- und Ausländergesetze, die einen wesentlichen Einfluss auf den Rassismus der Straße, den völkischen Rassismus haben.

Um nicht missverstanden zu werden: Zwischen dem Rassismus der Straße und der rassistischen Diskriminierung durch Gesetze und Behörden bestehen wesentliche Unterschiede. Die rassistischen Schläger differenzieren nicht zwischen einem indischen Asylbewerber und einem indischen IT-Experten. Bevor sie zuschlagen, führen sie keine Prüfung durch, ob es sich um einen nützlichen Ausländer handelt oder um einen unnützen. Der völkische Rassismus ist ein blinder Rassismus. Anders als das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül, nach dem Arbeitskräfte entsprechend ihrer Verwertbarkeit ausgesucht werden.

Beide Rassismen überschneiden sich jedoch im Feindbild der armen, unnützen Immigranten, die es gilt abzuwehren und zu vertreiben.
Vielleicht löst sich durch diese Überlegungen das Rätsel von vorhin. Warum hat sich der mediale Blick auf die Opfer gewandelt? Warum galten sie Anfang der 90er Jahre als abstrakte Punkte einer anonoymen Asylantenflut? Warum lösen ihre Geschichten heute moralische Betroffenheit aus? Eine wesentliche Ursache scheint uns, daß der völkische Rassismus, der Rassismus der Schläger, heute im Widerspruch zum Verwertungskalkül des Standortes Deutschland steht. Damals dienten die Angriffe als Begründung für die Demontage des Asylrechts, heute sind sie zum Investitionshindernis geworden.

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf einen anderen Aspekt eingehen. Auch der steckt im »Prinzip Opferperspektive«. Der Begriff des »Opfers« suggeriert Passivität, ohnmächtiges Ausgeliefertsein. Aber noch nicht ein mal in konkreten Angriffssituationen sind Opfer immer passiv. Sie wehren sich gegen ihre Angreifer, und das nicht selten. Niemand ist nur Opfer, auch nicht »Opfer der Verhältnisse«. Die Betroffenen gehen mit Ausgrenzung und Rassismus sehr unterschiedlich um. Sie sind nicht nur Opfer. Sie sind Menschen, die handeln, die nach individuellen Lösungen suchen, die sich wehren gegen den Rassismus der Verhältnisse. Die Perspektive der Opfer kann nur sein, nicht Opfer zu bleiben.

Gestern gab es hier in Berlin eine Demonstration afrikanischer Organisationen. Sie wollen sich nicht mehr auf den Opferstatus reduzieren lassen und schreiben in ihrem Aufruf: »Wir gehen auf die Strasse, weil wir keine Opfer mehr aufbringen und sein wollen. Schluss mit der OpferleiDkultur!«

In diesem Sinne freuen wir uns über die Carl-von-Ossietzky-Medaille, die wir als Signal an alle verstehen, diesen Kampf, den Kampf gegen die Opfer-Leidkultur aufzunehmen.

Wir möchten der Internationalen Liga für Menschenrechte ganz herzlich danken!

Vielen Dank!

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