„Er war derjenige, der dich zum Lächeln brachte”


Foto: Liz
Interview mit Liz (Isalyn Brown) über Noël Martin

Isalyn Brown, die am liebsten nur Liz genannt wird, lernte Noël Martin 2012 kennen. 2013 begann sie, als Pflegerin für ihn zu arbeiten, und wurde später zur Leitung seines Pflegeteams. Über die Jahre entwickelten Noël und Liz ein tiefes Verständnis füreinander und wurden enge Freund:innen. Es war Liz, die in seinen letzten Momenten im Krankenhaus bei ihm war, als er am 14. Juli 2020 verstarb. Sie lebt mit ihrer Familie in Birmingham.

Opferperspektive: Wie würden Sie Noël Martin als Person und Ihre Rolle als seine Pflegerin beschreiben?

Liz: Noël hatte unglaublich viel Humor. Er war jovial und charismatisch. Er liebte die Menschen im Ganzen und er liebte Kinder. Kindern gegenüber war er sehr fürsorglich, er schenkte ihnen 100% Liebe. Mit Noël zu arbeiten, konnte manchmal sehr herausfordernd sein – herausfordernd aufgrund der Dinge, die er tun wollte, aber nicht tun konnte. Wenn du jemanden pflegst, musst du dich manchmal in dessen Lage versetzen. Und wenn du auf sein Leben zurückblickst… Er war ein sehr stolzer Mann, der sein Ding machte, und dann endete sein vorheriges Leben in einem sehr jungen Alter. Er wurde abhängig von anderen, um Sachen zu tun, die er zuvor alleine machen konnte. Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, wie er sich fühlte, denn ich bin nicht er. Aber manchmal, wenn er frustriert war, konnte ich sehen, woher das kam.
 

“Mir war es immer wichtig, dass ihm Leute
auf eine Weise zuhören, die Noël als Person würdigt,
und dass sie ihn respektvoll wie einen Menschen behandeln.”

 
Opferperspektive: Wie ging Noël Ihrem Eindruck nach mit seiner Behinderung um? Was war ihm wichtig im Umgang mit seiner Behinderung?

Liz: Es gab Momente, in denen er sagte: „Oh, manchmal fühle ich mich, als würde ich nicht leben, sondern nur existieren”, weil er nicht in der Lage war, bestimmte Dinge zu tun, die er tun wollte. Mir war es immer wichtig, dass ihm Leute auf eine Weise zuhören, die Noël als Person würdigt, und dass sie ihn respektvoll wie einen Menschen behandeln. Denn Noël war ein sehr würdevoller Mann. Du sagst Noël nicht, dass etwas auf eine bestimmte Art nicht gemacht werden kann – sondern du gibst dein Bestes. Er wusste, dass manche Dinge nicht zu 100% so möglich waren, wie er sie gerne hätte. Aber schon wenn du mehr als die Hälfte der Kriterien erfülltest von dem, worum er dich gebeten hatte, machte ihn das sehr glücklich.

Er liebte warmes Wetter. Doch er war oft drinnen eingesperrt und hatte nicht die Möglichkeit, zu sehen, was es in der Außenwelt noch zu sehen gibt. Aber er war ein sehr glücklicher Mann. Wenn du mit einem schlechtgelaunten Gesicht hereinkamst, war er derjenige, der dich zum Lächeln brachte. Mit ihm wurde es nie langweilig. Er hatte ein Herz aus Gold – und er konnte dich zum Lachen bringen, bis dir die Tränen kamen.

Opferperspektive: Zwischen Ihnen beiden ist über die Jahre eine sehr besondere Beziehung entstanden…

Liz: An einen Arbeitstag bei ihm erinnere ich mich besonders. Meine Schicht ging eigentlich bis zehn am Abend, aber um elf redete er immer noch mit mir. Irgendwann schaute er mich an und sagte: „Gehst du nicht nach Hause?“ Aber wie hätte ich diesen Menschen in einer solchen Lage, der gerade etwas mit mir teilte, zurücklassen können. „Es ist gut, eine Person zu haben, die zuhört“, sagte er. Und so wurde ich ein aufmerksames Ohr für Noël und unsere Beziehung begann sich zu entwickeln. Und ich realisierte, dass ich aus gutem Grund dazu bestimmt war, bei diesem Menschen zu sein.

Seit Noël gestorben ist, habe ich noch nie in einer solchen Verfassung über ihn gesprochen. Es ist das erste Mal, dass ich dabei emotional werde. Er hat mir manchmal erzählt, was ihm früher alles passiert ist, was er als Heranwachsender durchgemacht hat. Ich dachte, wenn ich emotional werde, zerbreche ich ihn noch mehr, deshalb habe ich immer versucht, stark für ihn zu bleiben.

Opferperspektive: Was hat er Ihnen über seine Zeit in Deutschland und den rassistischen Angriff auf ihn hier erzählt?

Liz: Noël hatte zu dieser Zeit ein gutes Leben. Er hatte einen Job nach dem anderen, er verdiente gut. Manchmal kommst du an Orte, wo Leute dir das Gefühl geben, nicht willkommen zu sein. In seinem Fall nahm das ein solches Ausmaß an, dass er danach gelähmt war. Manchmal wollte er sich an diesen Tag nicht erinnern … Ein Jahr nach dem Unfall war es, als wäre er tot. Um mit einer solchen Situation umzugehen, musst du sehr stark sein – und er war ein sehr starker Mensch. Nach dem Angriff schaute er immer noch voller Leidenschaft, wie weit man im Kampf gegen Rassismus kommen kann.

Opferperspektive: Welche gesundheitlichen Folgen hatte der Angriff für ihn – auch im Hinblick auf seinen frühen Tod im Alter von 60 Jahren?

Liz: Noël ging seinen Weg weitere 24 Jahre. Es gibt nicht viele Leute, die 24 Jahre lang überleben würden, wenn sie nur an einer Stelle liegen. Er hat eine Menge durchgemacht und ist da immer raus gekommen. Er hätte auch ein paar Tage oder Wochen nach dem Angriff sterben können, aber er blieb noch 24 Jahre am Leben – obwohl er Teile seines Körpers nicht bewegen, nicht auf seine Gesundheit achten, nicht richtig essen, nicht in Schwung bleiben konnte. Er sagte immer, dass er zu Hause sterben wolle, aber leider musste er schlussendlich doch ins Krankenhaus. Ich denke, sein Körper war erschöpft und er wusste, dass seine Zeit gekommen war.

Opferperspektive: Was hat er Ihnen über die Aktivitäten zur Erinnerung an den Angriff in Deutschland erzählt?

Liz: Die Jahrestage des Angriffs trieben ihm Tränen in die Augen – und zwar Freudentränen, wenn er sah, wie sich die Menge versammelte. Er war sehr stolz auf das deutsche Team, wenn sie ihn als Person hervorhoben, wenn sie herausstellten, was er durchgemacht hatte, und einen Raum schufen, um gegen Rassismus zu kämpfen. Wenn jemand aus Deutschland Noël besuchte, bat er vorher seine Pflegerinnen darum, alles aufzuräumen, den Besuch gut zu behandeln. So war er. Sehr fürsorglich, er wollte nicht, dass sich irgendjemand fehl am Platz fühlt.
 

“Er war sehr stolz, wenn ein Raum
geschaffen wurde, um gegen Rassismus zu kämpfen.”

 
Opferperspektive: Gibt es etwas, was Sie den Teilnehmenden der diesjährigen Gedenkwoche gerne mitteilen würden?

Liz: Noël ist jetzt von uns gegangen, aber ich glaube, er ist im Geiste dabei. Ich weiß, dass er sehr stolz wäre, dass die Menschen sich immer noch an ihn und das, was ihm passiert ist, erinnern – und dass sie so etwas niemals jemand anderem wünschen würden.

Opferperspektive: Was waren Ihrer Einschätzung nach Errungenschaften von ihm, von denen er sich gewünscht hätte, dass wir uns daran erinnern?

Liz: Noël liebte das Leben. Er wollte leben. Und ich würde sagen, die größte Errungenschaft, von der er gewollt hätte, dass sie den Menschen in Erinnerung bleibt, ist die Stiftung. Die Arbeit, die in die Stiftung gesteckt wurde, um gegen Rassismus zu kämpfen. Jedes Mal, wenn er mit dem deutschen Team sprach, fragte er: „Wie weit seid ihr inzwischen mit dem Rassismus?”

Opferperspektive: Liebe Liz, vielen herzlichen Dank, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben!

Wir bedanken uns außerdem bei Carola Lotzenburger, einer engen Vertrauten von Noël Martin aus Heidelberg, die dieses Interview ermöglicht sowie Fragen und Gedanken zum Gespräch beigetragen hat.

Das Gespräch fand am 29. April 2021 online via Zoom statt. Wir freuen uns, hier einige Ausschnitte daraus präsentieren zu können.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Anne Grunwald

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