Rechtsextremismus fängt im Alltag an

Papa und Sohn auf der Rudolf-Hess-Gedenkdemonstration in Wittstock 2004 (Foto: Opferperspektive)
Papa und Sohn auf der Rudolf-Hess-Gedenkdemonstration in Wittstock 2004 (Foto: Opferperspektive)

Am Morgen des 15. Juni 2006 traute der Hausmeister der Graf-von-Arco-Oberschule seinen Augen nicht. Am Heizhaus der Nauener Schule wehte in 20 Meter Höhe eine Hakenkreuzfahne. Mit Hilfe der Feuerwehr wurde das NS-Symbol entfernt; die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Nauen und Umgebung waren bereits in Jahren 2004/2005 in die Schlagzeilen geraten. Damals gingen zehn Imbisse in Flammen auf. Wie eine Analyse des Potsdamer Innenministeriums später feststellte, waren die Ansichten und zum Teil auch die Absichten der rechten BrandstifterInnen in der Stadt allgemein bekannt.

Der »Heimatbund Ostelbien« lud am 24. Juni 2006 zu einer Sonnwendfeier in Pretzien. Im Laufe des Abends betraten sechs junge Männer mit Fackeln die Szenerie. Sie hielten eine Rede über germanische Bräuche und Rituale. Dann warfen sie eine US-Flagge und ein Exemplar der Tagebücher der Anne Frank ins Feuer. Keiner der rund 90 BesucherInnen unternahm etwas gegen diese neonazistische Inszenierung – auch nicht der anwesende Bürgermeister. Und selbst die herbeigerufenen PolizistInnen behandelten den Vorfall lediglich als »Ruhestörung«, da ihnen die Bedeutung des Anne-Frank-Tagebuchs angeblich nicht bewusst war.

Nauen und Pretzien können als typische Beispiele für eine Entwicklung in vielen Regionen Ostdeutschlands betrachtet werden. Dort ist eine rechtsextreme Alltagskultur vorzufinden, die erschreckend starke Wurzeln in der Mitte der Gesellschaft hat und weit über den engen Kreis der organisierten Neonazis hinaus wirkt. AktivistInnen neonazistischer Kameradschaften sind in die lokalen Strukturen integriert und werden von KommunalpolitikerInnen und Honoratioren als GesprächspartnerInnen akzeptiert. Dabei ist eine gesellschaftliche Dynamik entstanden, die sich auch unabhängig von der Existenz organisierter neonazistischer Vereinigungen vor Ort entfaltet.

Binnen eines Jahrzehnts haben sich aus dem Umfeld des jugendkulturellen Rechtsextremismus Strukturen herausgebildet, die sich als scheinbar »normaler« Diskurs- und Interaktionspartner demokratischer Institutionen und gesellschaftlicher Gruppen im Szene setzen können. Während Kameradschaftsbündnisse regelmäßig Demonstrationen durchführen oder zur sozialen Frage agitieren, widmen sich Heimatgruppen der Brauchtumspflege. Volkstänze werden eingeübt, Wanderungen durchgeführt, paramilitärische Zeltlager veranstaltet. Eine Vielzahl von Läden bedient die rechte Szene mit Accessoires und Rechtsrock, »nationale Wohnprojekte« ermöglichen ungestörte Neonazi-Konzerte. Durch die stetige Präsenz und die Übernahme sozialer Aufgaben durch Rechte, etwa auf Stadtteilfesten, in dörflichen Jugendklubs oder in der Freiwilligen Feuerwehr, ist »Rechtssein« hier zur Normalität geworden. Gleichzeitig versuchen die Neonazis, auf der lokalen Ebene als ernsthafte politische Kraft wahrgenommen zu werden. Sie demonstrieren gegen Hartz IV, mobilisieren gegen alternative Jugendzentren oder rufen Bürgerinitiativen für Ordnung und Sicherheit und gegen die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften ins Leben.

Rechtsextreme Erlebniswelten

Jedoch beschränken sich Neonazis nicht auf die Beeinflussung gesellschaftspolitischer Diskussionen. Gewaltanwendung gegen politische GegnerInnen und Menschen, die nicht ins rechte Weltbild passen, ist für sie ebenso ein legitimes Mittel zur Umsetzung der eigenen politischen Ziele. Gewaltanwendung und diskursive Intervention sind zwei Seiten einer Medaille und nicht voneinander zu trennen. Ein Beispiel: Die Harzregion in Sachsen-Anhalt wurde in den letzten Monaten von einer Welle rechter Gewalttaten erschüttert. Laut Angaben der »Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt« fielen vor allem nichtrechte Jugendliche den SchlägerInnen zum Opfer. Schlagzeilen machte die Region allerdings in anderer Sache: Im März 2006 sagte der Halberstädter Landrat ein Konzert des Liedermachers Konstantin Wecker ab. Der NPD-Kreisverband hatte gegen den Auftritt Stimmung gemacht und der Verwaltung gedroht. Man werde den Auftritt so genannter nationaler Liedermacher in Schulen und Jugendeinrichtungen gerichtlich erzwingen, kündigte der NPD-Kreisvorsitzende Matthias Heyder an, sollte das Konzert von Konstantin Wecker in öffentlichen Räumen stattfinden. Die Kreisverwaltung wurde in der Öffentlichkeit heftig für die Absage kritisiert. In der Stadt schloss man die Reihen und bejammerte die »Medienkampagne aus dem Westen«, die Halberstadt in einem falschen Licht erscheinen ließe. In den folgenden Wochen nutzten die Neonazis jede Gelegenheit, um ihre Sicht der Dinge darzustellen. Dabei waren Teile der Öffentlichkeit offenkundig bereit, die Neonazis als gleichberechtigte Diskussionspartner zu akzeptieren, solange sie sich nicht als »Krawallmacher«, sondern als »seriöse« Vertreter berechtigter politischer Anliegen gebärden.

Diese Entwicklung ist das Ergebnis einer erfolgreichen sozialräumlichen Durchdringungstaktik, die gegenwärtig innerhalb der Strategien des organisierten Rechtsextremismus eine Schlüsselfunktion einnimmt. Die konspirative Unterwanderung von Heimat- und Schützenvereinen gehört vielerorts der Vergangenheit an. Oftmals müssen Neonazis nicht mehr verdeckt agieren, da einzelne Aspekte ihrer Ideologie wie der »Heimatschutz« anschlussfähig geworden sind. Insofern sind die oben genannten Beispiele nur Belege für das hohe Ausmaß der gesellschaftlichen Verankerung rechter Identitäts- und Politikangebote in kleinstädtischen und ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Sie verweisen gleichzeitig auf eine Erosion demokratischer Institutionen auf der lokalen Ebene. Die neonazistischen Akteure werden nicht mehr in erster Linie als »Neonazis« wahrgenommen, sondern als »honorige« Personen, die im Dienste der Gemeinschaft tätig sind.

Diese Entwicklung ist gegen und unterhalb der Reichweite und Wirkungsmacht der lokalen politischen Eliten durchgesetzt worden – bisher in erster Linie über die lebensweltliche Verankerung und Attraktivität einer rechtsextremen Jugendkultur. Diese rechte Erlebniswelt integriert und sanktioniert gleichermaßen. Sie sanktioniert normabweichendes Verhalten vor allem präventiv. Ein Ergebnis: In manchen Regionen sind Träger alternativer Sozialisationsangebote schlichtweg nicht mehr auffindbar.

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