Unsere Angst ist ihre Macht

In Brandenburg unterstützt eine Initiative Betroffene rechtsextremer Gewalt

Bericht zum Angriff auf Luca Vacca in der Nacht vom 22. auf den 23.8.1998 beim Feuerwehrfest in Dedelow:

Luca, einer der drei Italiener, ging auf die Toilette und kam nicht wieder. Nach einiger Zeit finden ihn seine drei Begleiter: blutverschmiert, völlig benommen, unfähig zu sprechen. Luca war von zwei Nazi-Skins zusammengetreten worden. Mit Stahlkappenstiefeln hatten sie seinen Schädel angebrochen, und Luca, wie sich später herausstellen sollte, wäre gestorben, wenn er nicht sofort notoperiert worden wäre. Doch bis Luca ins Krankenhaus gebracht wird, vergeht noch viel Zeit. Lucas Begleiter Fabiano geht zum Fest zurück und spricht alle an, sie sollten so schnell wie möglich die Polizei und einen Krankenwagen rufen. Die Feuerwehrleute auf dem Fest wimmeln ab, »Keine Polizei. Es ist doch nichts passiert.« 60 Leute sind auf dem Fest, keiner will helfen. Fabiano läuft selbst zur Telefonzelle, der schwerverletzte Luca bleibt mit einem italienischen Freund zurück. Die Stimmung gegen die Italienier wird immer aggressiver. Die Festteilnehmer lachen die Italiener aus, verspotten sie. Lucas Begleiter wird fast ohnmächtig vor Todesangst. Er sah es kommen, daß die Nazi-Skins, die sich um ihn herum aufgebaut hatten, Luca und ihn noch einmal angreifen und töten könnten.

Der gesellschaftliche Kontext rassistischer Angriffe

Der Angriff auf Luca in Dedelow ist nur einer von vielen. Letztes Jahr zählte die Brandenburgische Polizei 100 rassistische und rechtsextreme Gewalttaten. Die Dunkelziffer ist hoch, da viele Opfer – Migranten, alternative Jugendliche, Behinderte – keine Anzeige stellen, oder die Polizei Anzeigen schlichtweg nicht aufnimmt. Fälle wie Dedelow zeigen, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Angriffe stehen. Zwar sind die Täter meist männliche Jugendliche, die rechtsextremen Cliquen angehören; aber solche Angriffe werden erst möglich in einem gesellschaftlichen Klima, das von Rassismus und völkischem Nationalismus geprägt ist. In Dedelow war es ein Querschnitt durch die Bevölkerung Brandenburgs, der den Opfern Hilfe verweigerte und sie stattdessen rassistisch anpöbelte: eine kleine Gruppe von Nazi-Skins aus dem Nachbardorf, »durchschnittlich rassistische« Jugendliche aus Dedelow, normale Bürger, Feuerwehrleute. Es ist die »Mitte der Gesellschaft«, aus der der Rassismus kommt. Nach Meinungsumfragen hängt über die Hälfte der Bevölkerung Vorurteilen an wie dem, Ausländer sind Sozialschmarotzer und nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. Kein Wunder, daß sich die rechtsextremen Gewalttäter wie Vollstrecker des Volksempfindens fühlen.

“No-Go Areas”

Ein solcher Angriff betrifft nicht nur das individuelle Opfer. Getroffen wird ein einzelner, gemeint sind alle. Alle, die nach den Feindbildern der Rechtsextremisten zu bestimmten Gruppen gehören: alle Migranten, alternative und linke Jugendliche (im Nazi-Jargon »Zecken«), Behinderte, Obdachlose, Schwule und Lesben. Alle bekommen es mit der Angst zu tun, alle werden eingeschüchtert. Viele meiden die Orte, an denen sie wahrscheinlich angegriffen werden können. Das kann ein Bahnhof nach Anbruch der Dunkelheit sein, das kann ein Platz vor dem Einkaufszentrum sein. Das Land wird durchzogen von »No-Go Areas« für die Gruppen potentieller Opfer. Viele können sich nicht mehr frei bewegen, manche, besonders Flüchtlinge in Heimen, leben wie im Gefängnis, andere, etwa Migranten aus Berlin, fahren nicht mehr nach Brandenburg.

“National befreite Zonen”

Organisierten Rechtsextremisten wie der NPD kommt diese Entwicklung gelegen. Was aus der Sicht der Opfer »No-Go Areas« sind, nennen sie »national befreite Zonen«. Sie meinen damit, daß sie es sind, ihre Kameradschaften und ihr soziales Umfeld, die die soziale Kontrolle ausüben, nicht mehr staatliche Institutionen. Sie haben die Hegemonie vor Ort, sei es kulturell, indem sie Vorreiter eines völkisch-nationalistischen Lebensstils sind, sei es repressiv, indem sie Abweichler von diesem Lebenstil verfolgen und einschüchtern. Der Kampf um die Hegemonie wird in fast jeder Schule, jedem Jugendclub, in vielen Dörfern und Stadtteilen geführt, und die Rechtsextremisten erobern sich immer mehr Terrain. An vielen Orten in Brandenburg ist der rechtsextreme mainstream alternativlos. Rechts zu sein, ist Normalität. Wer keinen Ärger will, paßt sich an.

Rassistischer Konsens

Falsch wäre es jedoch zu glauben, die rechte Hegemonie wäre allein das Werk einer strategischen Planung von Rechtsextremisten. Die Parole von den »national befreiten Zonen« verschleiert, wie andere gesellschaftliche Kräfte diese Entwicklung befördert haben. Nach wie vor leugnen viele Bürgermeister und Gemeindevertreter, Sozialarbeiter und Lehrer, daß in ihrer Stadt ein Problem mit Rechtsextremismus und Rassismus besteht. Aus der Befürchtung, der Ruf ihrer Stadt könnte beschädigt werden, leugnen sie das Problem und definieren es um als »allgemeine Jugendgewalt«, »rivalisierende Jugendbanden«, Alkoholprobleme. Weil sie nicht über den breiten rassistischen Konsens sprechen wollen, weil sie partiell dieselben rassistischen, völkischen und autoritären Einstellungen wie die rechtsextremen Täter teilen, nehmen sie die Täter in Schutz: es sind ja »unsere Jugendlichen«. Der Eroberung immer neuer Räume durch die rechtsextreme Szene werden keine Hindernisse in den Weg gelegt, den Rechtsextremisten wird manchmal sogar ein öffentliches Forum gegeben. Dagegen werden jene, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren wollen, als »Nestbeschmutzer« ausgegrenzt.

Opfer werden zu Tätern gemacht

Im Umgang mit Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt wiederholt sich deren Stigmatisierung und Ausgrenzung. Ein schlagendes Beispiel ereignete sich 1993 in Schwedt, einer Stadt, die in vielerlei Hinsicht Modell für die nachfolgende Entwicklung in vielen anderen Orten stand. Ein Lehrer, der an seiner Schule offen gegen Rechtsextremisten auftrat und an einem Bündnis gegen Rechtsextremismus teilnahm, wird von organisierten Rechtsextremisten zusammengeschlagen. Am Boden liegend drohen sie ihm: »Halt dich raus bei der Antifa, sonst kommen wir wieder.« Zwei Wochen liegt er mit Nasenbeinbruch und Gehirnerschütterung im Krankenhaus. In diesen zwei Wochen besucht ihn weder der Direktor seiner Schule noch irgendein Kollege. Die Stadtverwaltung übergeht den Vorfall.

Die Rechtsextremisten haben ein Exempel statuiert: wer sich gegen uns stellt, der hat mit Konsequenzen zu rechnen. Und diese Einschüchterung zeigte Wirkung, da der Lehrer völlig allein gelassen wurde. Die Schwedter Bevölkerung, die von dem Vorfall erfuhr, verarbeitete ihn auf ihre Weise: Der Lehrer hat den Angriff auf sich selbst provoziert. Noch heute spricht er nicht mit der Presse.

Das Beispiel läßt sich übertragen auf andere Gruppen potentieller Opfer. Der Schwedter Bürgermeister gibt noch 1997 alternativen Jugendlichen die Schuld für die Angriffe von Rechtsextremisten auf sie. Wenn sie sich die Haare unbedingt bunt färben müssen, dann dürfen sie sich nicht wundern … Die bloße Anwesenheit von Migranten in Deutschland provoziere die Angriffe, gemäß der verbreiteten Meinung, es gebe zu viele Ausländer, sie würden Deutschland überfremden. So werden aus Opfern Täter gemacht, und die Täter werden als Opfer von Arbeitslosigkeit und Migration entschuldigt.

Traditioneller Antifaschisms und rechte Hegemonie

Unabhängige Antifaschisten haben die Entwicklung einer rechten Hegemonie lange Zeit nicht genügend berücksichtigt. Seit der Wende, seit Anfang der 90er Jahre, konzentrierte sich der Antifaschismus hauptsächlich auf organisierte rechtsextreme Strukturen: die Aktivitäten von rechtsextremen Parteien wurden aufgedeckt und öffentlich gemacht, Kader wurden geoutet, den Rechtsextremisten wurde die Straße streitig gemacht, Aufmärsche von Rechtsextremisten wurden verhindert. Daß sich auch unterhalb der Ebene der Organisationen Rechtsextremismus als Alltagskultur verbreitete, daß rechtsextreme Angriffe vor allem von unorganisierten Cliquen ausgehen, dem wurde erst spät Rechnung getragen. Darüber hinaus machte die Stigmatisierung von Antifaschisten als Linksextremisten und ihre manchmal selbstgewählte Isolation Antifaschismus wenig wirkungsvoll, wenig wirkungsvoll angesichts einer sich formierenden rechten Hegemonie.

Bündnisse gegen rechts

In einem solchen ungünstigen Kräfteverhältnis erscheinen Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Initiativen, die bereit sind, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren, als der einzig erfolgversprechende Weg. Wo solche Bündnisse, meist auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners – gegen Nazis -, gelingen, kann ein Gegenpol zur rechten Normalität gebildet werden. Ein öffentlich sichtbarer Gegenpol, der das rechte kulturelle Monopol bricht, an dem sich gerade Jugendliche orientieren können, die sich dem rechten mainstream nicht anpassen wollen. Ein Gegenpol, der durch Druck von selbstorganisierten Initiativen die politisch Verantwortlichen dazu bewegen kann, das rechtsextreme Problem anzuerkennen. Ein Gegenpol, der anderen Mut macht einzugreifen, nicht nur bei Angriffen sondern auch bei jeder rassistischen oder rechtsextremen Äußerung. Denn das ist es, was allerorten fehlt: eine lebendige Diskussionskultur im Alltag, die Bereitschaft, sich selbstbestimmt zu engagieren und nötigenfalls eine Konfrontation auszuhalten.

Opferperspektive

Das Projekt »Opferperspektive« verortet sich vor diesem Hintergrund. Kern des Projekts ist die Beratung und Unterstützung von Opfern rechtsextremer Gewalt. In Zusammenarbeit mit den Ausländerbeauftragten und lokalen Initiativen gegen Rechtsextremismus nehmen wir Kontakt mit den Opfern auf. Wenn wir sie besuchen, sind wir oft die ersten, bei denen sie über den Angriff und die Folgen sprechen können, wo sie ernst genommen werden. Gemeinsam mit ihnen überlegen wir, welche Schritte jetzt nötig sind: soll ein Rechtsanwalt sie beim Prozeß in der Nebenklage vertreten? Das ist oft der einzige Weg, um auf die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft Einfluß zu nehmen, um das Opfer als Zeuge im Prozeß vor den Angriffen der Rechtsanwälte der Angeklagten zu schützen, um den Prozeß im Sinne des Opfers mitzubestimmen, um zu verhindern, daß die Tat als Schlägerei ohne rassistischen oder rechtsextremen Hintergrund verharmlost wird. Oder brauchen die Opfer psychotherapeutische Hilfen? Oft sind sie vom Angriff traumatisiert, die Angst lähmt sie, sie trauen sich nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße, haben Albträume und Schlafstörungen. Oder werden sie weiterhin von den rechtsextremen Tätern bedroht? Sollten sie, wie im Falle von Flüchtlingen, besser in ein anderes Heim, außerhalb der Reichweite der Täter? Hier setzen wir uns dafür ein, daß die Ausländerbehörden eine solche Verlegung genehmigen. Ganz wichtig: erhalten sie von ihrem sozialen Umfeld genügend Unterstützung? Schaffen es sie und ihr Umfeld, gemeinsam mit der Bedrohung umzugehen? Und wir helfen bei vielen anderen Angelegenheiten, die mit dem Angriff zusammenhängen, wie ärztliche Atteste oder Anträge auf Opferentschädigung.

Kommt es zum Prozeß, begleiten wir sie im Gericht. Oft müssen sie vor dem Gerichtssaal auf ihre Vernehmung als Zeugen warten, gegenüber von ihnen andere rechtsextreme Zeugen oder deren Freunde, eine nur schwer erträgliche Situation. Meist gelingt es uns, lokale Initiative für die Prozeßbeobachtung zu mobilisieren. Dann ist der Saal nicht voll mit Skins sondern umgekehrt mit Menschen, die auf der Seite des Opfers stehen.

Solche lokalen Initiativen können eine wichtige Rolle spielen, selbst die Opfer zu unterstützen und das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen. Unser zweiter Arbeitsschwerpunkt liegt daher in der Beratung und Unterstützung solcher Initiativen vor Ort, meist mit workshops oder Veranstaltungen. Es ist ein Zeichen von Hoffnung, daß es in fast jede Stadt in Brandenburg selbstorganisierte Initiativen gibt, die Bündnispartner außerhalb ihrer Szene suchen und Bündnisse gegen rechts eingehen.

Der dritte Arbeitsschwerpunkt besteht in einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit, der Zusammenarbeit mit Medien, um die Perspektive der Opfer rechtsextremer Gewalt ins Zentrum zu rücken und Schluß zu machen mit dem Verständnis und den Entschuldigungen für die Täter.

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