Die »Opferperspektive«

Meist klingen die Anrufe so: Könnt ihr schnell vorbeikommen? In Rathenow haben sie wieder einen Pakistani zusammengeschlagen. Oder so: Was sollen wir machen? Gestern Nacht haben 20 Skinheads bei uns ein Flüchtlingsheim überfallen. Oder so: Omar ist tot. Sie haben ihn zu Tode gehetzt. Was nun?

Sie fahren dann raus, die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Opferperspektive Brandenburg. Fahren zum Beispiel nach Neustadt an der Dosse, wo ein Asylbewerber aus dem Kamerun von rechtsradikalen Jugendlichen verprügelt wurde. Sie reden mit ihm und hören zu. Das ist das Wichtigste: Zuhören. Einfach da sein. Danach suchen sie einen französischsprachigen Psychologen, der ihm bei der Bewältigung des Traumas zur Seite steht. Suchen einen guten Anwalt. Sind im Gerichtssaal dabei, in dem 30 Glatzen das Opfer bedrohlich anstarren. Kümmern sich darum, dass das Sozialamt die Kosten für die Prothesen der herausgeschlagenen Zähne übernimmt. Und sorgen schließlich dafür, dass der Flüchtling nicht mehr in dem Heim leben muss, in dem er um sein Leben fürchtet.

»In unserer Arbeit stehen die Opfer im Mittelpunkt, nicht die Täter«, sagt Kay Wendel, Gründer der Opferperspektive. »Es gab da schlimme gesellschaftliche Fehlentwicklungen.

Zum einen hat die akzeptierende Sozialarbeit mit rechten Jugendlichen nie funktioniert. Und zweitens wurden die Täter als Opfer der Verhältnisse dargestellt. Die sind inzwischen so schlau, dass sie nach einem Überfall in jede Kamera sagen, wir brauchen dringend einen Jugendclub, dann passiert sowas nicht. Und Politiker reagieren darauf. Als Belohnung für den ausländerfeindlichen Überfall gibt es dann noch einen Jugendclub.«

Die Opferperspektive Brandenburg besteht seit drei Jahren und ist die einzige Einrichtung dieser Art in ganz Deutschland. Die Mitarbeiter engagieren sich schon seit 1990 im Kampf gegen Rechtsextremismus. Sie nennen sich VollzeitEhrenamtliche. Honorare gibt es nicht. Auch kein Büro. Dafür fehlt das Geld. »Wir bräuchten dringend weitere Profis in unserem Team«, sagt Gabi Jaschke, »aber wer kann es sich schon leisten, voll zu arbeiten und nichts zu verdienen?« Gabi Jaschke, 39, selbst ist arbeitslos. Kay Wendel, 37, arbeitet halbtags als Lehrer.

Sie haben nun begonnen, ein Netzwerk aufzubauen. Kontaktpersonen in ganz Brandenburg – Ausländerbeauftragte, Jugendclubleiter, alternative Jugendliche -, die die lokalen Verhältnisse kennen und Alarm schlagen, wenn sich wieder etwas zusammenbraut in den sogenannten »national befreiten Zonen«, wo sich kaum noch ein Ausländer allein auf die Straße wagt. Die Rechten haben längst die Wege der Flüchtlinge ausgekundschaftet. Meist schlagen die Täter in Bahnhofsnähe zu. Und oft beteiligen sich 13-Jährige, da die noch nicht strafmündig sind.
Die Arbeit ist zäh. Die Mitarbeiter haben es mit Behörden zu tun, die eine psychologische Betreuung der Opfer ablehnen, weil das Asylbewerberleistungsgesetz so etwas angeblich nicht vorsieht. Und mit Polizisten, die rechtsextreme Taten nur als solche einordnen, wenn die kahl geschorenen Schläger drauflosprügeln und gleichzeitig auch noch »Sieg Heil« brüllen. Und mit einer Politik, die Unterschriftenkampagnen gegen Ausländer organisiert, Asylbewerber in Ghettos hält und ihnen jede Form der Erwerbstätigkeit untersagt.

Die rechtsextremen Übergriffe der vergangenen Wochen sind erschreckend, finden Wendel und Jaschke, aber die Menschen haben nun endlich kapiert, dass es sich hier nicht um eine kleine Gruppe gewalttätiger Rechter handelt, sondern um ein Phänomen, das im Osten längst Alltagskultur ist. »Und das wird morgen nicht verschwinden, nur weil man die NPD verbietet und ihre Bankkonten auflöst. Das sitzt viel tiefer. Aber man kann sich wehren. Wir wehren uns.«

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